Einkaufen ist ein Politikum. Das machte ein Zeitzeugengespräch rund ums Einkaufen deutlich, zu der die Mülheimer Zeitzeugenbörse, rechtzeitig zum Wochenendeinkauf, in den Dümptener Seniorenclub an der Oberheidstraße eingeladen hatte. Brigitte Reuß, die die Zeitzeugenbörse zusammen mit Manfred Zabelberg leitet, schlug zum Einstieg den ganz großen historischen Bogen von den tönernen Einkaufslisten alten Römer bis zu den personalfreien Kassenscannern und dem Interneteinkauf, der die Existenz des stationären Einzelhandels bedroht. Auch den sozialen Bogen schlug sie vom Higtech-Smarthome, in dem der Kühlschrank die Einkaufliste erstellt bis hin zur zunehmenden Zahl materiell armer Menschen, die auf die Lebensmittelspenden der Tafel des Diakoniewerkes an der Georgstraße oder auf Kleidung aus den Schenk- und Secondhandläden der Wohlfahrtverbände angewiesen sind.
Die 1926 geborene Eva Timm berichtete aus ihrer Jugend:
„Natürlich gab es früher auch schon Kaufhäuser, zum Beispiel das der jüdischen
Familie Tietz, das nach der Machtübernahme von den Nationalsozialisten in den
1930erJahren als Kaufhof arisiert wurde. Aber die Auswahl und Vielfalt war
früher bei weitem nicht so groß wie heute. Stattdessen gab es sehr viel mehr
Stoffgeschäfte als heute und den Beruf des Zuschneiders, den mein Vater ausübte.“
Zuschneider schnitten den Stoff zu, den ihre Kunden bei ihnen kauften, um sich
daheim an der Nähmaschine ein Kleid, eine Hose oder einen Anzug zu nähen. Auch das
damals noch florierende Gewerbe der Hutmacherinnen und Hutmacher gehört zu
Timms Kindheitserinnerungen, „weil die Damen und auch die Herren viel mehr Hut
trugen als heute.“ Unvergessen bleiben für Timm auch ihr erste blaues
Jäckchenkleid und die dazu passenden Schuhe, die ihr älterer Bruder ihr im
Kriegsjahr 1942 im Heimaturlaub, aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Paris
mitgebracht hatten.
Wie Timm, konnten sich auch die 1939 geborene Ursula Storks,
die 1936 geborene Ilse Diekhönner und die 1938 geborene Gisela Fuß an die
Mangelwirtschaft der Kriegs- und Nachkriegsjahre erinnern. „Wir kauften in
einem kleinen Tante-Emma-Laden ein. Gekauft wurde, was gerade da war. Lebensmittel
wurden unverpackt und wurden in einem Henkelmann, in einer mitgebrachten
Flasche oder im Einkaufskorb- oder Beutel nach Hause getragen.“ Die Kriegs- und
Nachkriegszeit verbinden Storks, Fuß und Diekhönner mit rationierten
Lebensmitteln, die man monatlich auf einer Karte zugeteilt bekam und meistens
erst nach einem langen Stehen in der Warteschlange ausgehändigt bekam. „Damals
gab es oft Maisbrot und Steckrüben. Die schmeckten furchtbar. Aber wir hatten
Hunger“, erinnern sich Storks und Fuß. Unvergessen bleibt Storks, „dass meine
Mutter den Bunker verließ und im Bombenhagel nach Hause lief, um dort einen
Fleischtopf zu holen, den sie auf der Fensterbank hatte stehen lassen und dass
ich einmal den Henkelmann mit unserer gesamten Milchration vergossen habe, weil
ich auf dem Heimweg von einem Tiefflieger überrascht wurde und mich sofort flach
hinwerfen musste.“ Obwohl Bergleute als „Schwerstarbeiter“ Lebensmittelzulagen
erhielten, weiß Diekhönner zu berichten, „dass mein Vater nach seiner Schicht
als Bergmann am Wochenende bei einem Bauern arbeitete, um zusätzliche
Lebensmittel heimbringen zu können.“
„Nach dem Krieg mussten unsere Eltern uns immer wieder bei
Nachbarn einquartieren, um in überfüllten Zügen zum Hamstern an den Niederrhein
zu fahren. Die Reichsmark war nichts mehr wert. Der Schwarzhandel blühte.
Zigaretten waren damals die Hauptwährung. Unsere Eltern haben bei den Bauern
alles, was nicht niet- und nagelfest war gegen Lebensmittel eingetauscht.“ Als
ein Privileg empfand es Ursula Storks, „dass meine Mutter zuhause einen Teil
der Milchsuppe kochen konnte, die wir nach dem Krieg als Schulspeisung von den
Quäkern bekamen, so dass ich in der Schule und zuhause essen konnte.“ Und auch
ein waghalsiger Kohlenklau auf einem Eisenbahnwaggon am Styrumer Bahnhof
gehörte für Storks zu ihren etwas anderen „Einkaufserlebnissen“ in der
Nachkriegszeit.
Erst nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 füllten sich
die Schaufenster der zum Teil noch kriegsbeschädigten Geschäfte wieder mit
Waren, die jetzt mit der knappen D-Mark bezahlt werden mussten.
„In der DDR gab es noch bis 1958 Lebensmittelkarten.
Eingekauft wurde in den HO-Läden der staatlichen Handelsorganisation. Grundnahrungsmittel
und Wohnungsmieten waren sehr preiswert, aber alles was über den Grundbedarf
hinausging, war sehr teuer. Während ein 1500-Gramm-Brot 78 Pfennig kostete,
kosteten eine Bockwurst 5 Mark und ein Stück Torte 7,50 Mark. Später konnte man
viele hochwertige Waren nur in Exquisit-Läden und Intershops zu überhöhten
Preisen kaufen. Manche Waren, wie etwa ein Kühlschrank waren nur gegen einen
inoffiziellen Aufpreis unter der Hand zu bekommen“, erinnert sich der 1939 in
Halle an der Saale geborene Mülheimer Dieter Schilling.
Aber auch für die 1949 im damals noch ländlichen Teil
Dümptens, der an Oberhausen grenzt, geborene Jutta Lose kam das Wirtschaftswunder
erst Mitte der 1960er Jahre an, als sie als Arzthelferin ihr erstes eigenes
Geld verdiente und damit erstmals in einer Boutique schick einkaufen konnte. Lose
erinnert sich: „In meiner Kindheit hatten wir einen großen Garten, in dem wir
als Selbstversorger Obst und Gemüse anbauten. Einkaufen konnten wir damals nur
in einem kleinen Tante-Emma-Laden mit einer sehr begrenzten Auswahl.
Kartoffeln, Eier und Milch lieferte uns ein Bauer mit seinem Pferdefuhrwerk.
Brot, Brötchen und Kuchen kauften wir aus dem Lieferwagen eines Bäckers. Ein
Einkauf in der Mülheimer oder Oberhausener Innenstadt war für uns mit einem
mindestens 40-minütigen Fußmarsch verbunden. Erst 1962 eröffnete in der Nähe meines
Elternhauses ein Aldi-Markt.“
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