Donnerstag, 17. November 2022

Tante Emmas Erben

 Einkaufen ist ein Politikum. Das machte ein Zeitzeugengespräch rund ums Einkaufen deutlich, zu der die Mülheimer Zeitzeugenbörse, rechtzeitig zum Wochenendeinkauf, in den Dümptener Seniorenclub an der Oberheidstraße eingeladen hatte. Brigitte Reuß, die die Zeitzeugenbörse zusammen mit Manfred Zabelberg leitet, schlug zum Einstieg den ganz großen historischen Bogen von den tönernen Einkaufslisten alten Römer bis zu den personalfreien Kassenscannern und dem Interneteinkauf, der die Existenz des stationären Einzelhandels bedroht. Auch den sozialen Bogen schlug sie vom Higtech-Smarthome, in dem der Kühlschrank die Einkaufliste erstellt bis hin zur zunehmenden Zahl materiell armer Menschen, die auf die Lebensmittelspenden der Tafel des Diakoniewerkes an der Georgstraße oder auf Kleidung aus den Schenk- und Secondhandläden der Wohlfahrtverbände angewiesen sind.

Die 1926 geborene Eva Timm berichtete aus ihrer Jugend: „Natürlich gab es früher auch schon Kaufhäuser, zum Beispiel das der jüdischen Familie Tietz, das nach der Machtübernahme von den Nationalsozialisten in den 1930erJahren als Kaufhof arisiert wurde. Aber die Auswahl und Vielfalt war früher bei weitem nicht so groß wie heute. Stattdessen gab es sehr viel mehr Stoffgeschäfte als heute und den Beruf des Zuschneiders, den mein Vater ausübte.“ Zuschneider schnitten den Stoff zu, den ihre Kunden bei ihnen kauften, um sich daheim an der Nähmaschine ein Kleid, eine Hose oder einen Anzug zu nähen. Auch das damals noch florierende Gewerbe der Hutmacherinnen und Hutmacher gehört zu Timms Kindheitserinnerungen, „weil die Damen und auch die Herren viel mehr Hut trugen als heute.“ Unvergessen bleiben für Timm auch ihr erste blaues Jäckchenkleid und die dazu passenden Schuhe, die ihr älterer Bruder ihr im Kriegsjahr 1942 im Heimaturlaub, aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Paris mitgebracht hatten.

Wie Timm, konnten sich auch die 1939 geborene Ursula Storks, die 1936 geborene Ilse Diekhönner und die 1938 geborene Gisela Fuß an die Mangelwirtschaft der Kriegs- und Nachkriegsjahre erinnern. „Wir kauften in einem kleinen Tante-Emma-Laden ein. Gekauft wurde, was gerade da war. Lebensmittel wurden unverpackt und wurden in einem Henkelmann, in einer mitgebrachten Flasche oder im Einkaufskorb- oder Beutel nach Hause getragen.“ Die Kriegs- und Nachkriegszeit verbinden Storks, Fuß und Diekhönner mit rationierten Lebensmitteln, die man monatlich auf einer Karte zugeteilt bekam und meistens erst nach einem langen Stehen in der Warteschlange ausgehändigt bekam. „Damals gab es oft Maisbrot und Steckrüben. Die schmeckten furchtbar. Aber wir hatten Hunger“, erinnern sich Storks und Fuß. Unvergessen bleibt Storks, „dass meine Mutter den Bunker verließ und im Bombenhagel nach Hause lief, um dort einen Fleischtopf zu holen, den sie auf der Fensterbank hatte stehen lassen und dass ich einmal den Henkelmann mit unserer gesamten Milchration vergossen habe, weil ich auf dem Heimweg von einem Tiefflieger überrascht wurde und mich sofort flach hinwerfen musste.“ Obwohl Bergleute als „Schwerstarbeiter“ Lebensmittelzulagen erhielten, weiß Diekhönner zu berichten, „dass mein Vater nach seiner Schicht als Bergmann am Wochenende bei einem Bauern arbeitete, um zusätzliche Lebensmittel heimbringen zu können.“

„Nach dem Krieg mussten unsere Eltern uns immer wieder bei Nachbarn einquartieren, um in überfüllten Zügen zum Hamstern an den Niederrhein zu fahren. Die Reichsmark war nichts mehr wert. Der Schwarzhandel blühte. Zigaretten waren damals die Hauptwährung. Unsere Eltern haben bei den Bauern alles, was nicht niet- und nagelfest war gegen Lebensmittel eingetauscht.“ Als ein Privileg empfand es Ursula Storks, „dass meine Mutter zuhause einen Teil der Milchsuppe kochen konnte, die wir nach dem Krieg als Schulspeisung von den Quäkern bekamen, so dass ich in der Schule und zuhause essen konnte.“ Und auch ein waghalsiger Kohlenklau auf einem Eisenbahnwaggon am Styrumer Bahnhof gehörte für Storks zu ihren etwas anderen „Einkaufserlebnissen“ in der Nachkriegszeit.

Erst nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 füllten sich die Schaufenster der zum Teil noch kriegsbeschädigten Geschäfte wieder mit Waren, die jetzt mit der knappen D-Mark bezahlt werden mussten.

„In der DDR gab es noch bis 1958 Lebensmittelkarten. Eingekauft wurde in den HO-Läden der staatlichen Handelsorganisation. Grundnahrungsmittel und Wohnungsmieten waren sehr preiswert, aber alles was über den Grundbedarf hinausging, war sehr teuer. Während ein 1500-Gramm-Brot 78 Pfennig kostete, kosteten eine Bockwurst 5 Mark und ein Stück Torte 7,50 Mark. Später konnte man viele hochwertige Waren nur in Exquisit-Läden und Intershops zu überhöhten Preisen kaufen. Manche Waren, wie etwa ein Kühlschrank waren nur gegen einen inoffiziellen Aufpreis unter der Hand zu bekommen“, erinnert sich der 1939 in Halle an der Saale geborene Mülheimer Dieter Schilling.

Aber auch für die 1949 im damals noch ländlichen Teil Dümptens, der an Oberhausen grenzt, geborene Jutta Lose kam das Wirtschaftswunder erst Mitte der 1960er Jahre an, als sie als Arzthelferin ihr erstes eigenes Geld verdiente und damit erstmals in einer Boutique schick einkaufen konnte. Lose erinnert sich: „In meiner Kindheit hatten wir einen großen Garten, in dem wir als Selbstversorger Obst und Gemüse anbauten. Einkaufen konnten wir damals nur in einem kleinen Tante-Emma-Laden mit einer sehr begrenzten Auswahl. Kartoffeln, Eier und Milch lieferte uns ein Bauer mit seinem Pferdefuhrwerk. Brot, Brötchen und Kuchen kauften wir aus dem Lieferwagen eines Bäckers. Ein Einkauf in der Mülheimer oder Oberhausener Innenstadt war für uns mit einem mindestens 40-minütigen Fußmarsch verbunden. Erst 1962 eröffnete in der Nähe meines Elternhauses ein Aldi-Markt.“


Mülheimer Zeitzeugen

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