Sonntag, 10. November 2019

Eine Erinnerung an der Mauerfall

„Ich habe damals im Keller meines Elternhauses an meinem Motorrad herumgeschraubt und im Radio die von Thomas Gottschalk moderierte Hitparade von Bayern 3 gehört“, erinnert sich der im thüringischen Gera geborene und aufgewachsene Jörg Thon, an den Abend des 9. November 1989. Als die Musik plötzlich mit der Nachricht unterbrochen wurde, dass der Regierungssprecher der DDR, Günter Schabowski, soeben mitgeteilt habe: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.“ Thon: „Ich habe das erst gar nicht richtig registriert. Erst als diese Nachricht um 20 Uhr wiederholt wurde, bin ich hoch zu meinen Eltern und habe sie gefragt, was man davon halten könne. Auch Thons Frau Janet erinnert sich an ein Gespräch mit ihren Eltern, ob man dieser Nachricht trauen könne und was sie zu bedeuten habe.


Janet und Jörg Thon, die heute als Gastronomen den Ratskeller und den Bürgergarten betreiben, waren damals noch nicht verheiratet, aber schon ein Paar. Beide waren damals Anfang 20 und hatten sich wenige Jahre zuvor in der Tanzschule kennen gelernt. Sie arbeitete 1989 als angehende Bürokauffrau bei der Stadtverwaltung Gera. Er baute damals an der dortigen Fachhochschule seinen sozialistischen Binnenhandelsmeister. Der sollte ihn dafür qualifizieren, den Gastronomiebetrieb des Veranstaltungshauses in Gera zu übernehmen.


Wenige Jahre zuvor hatte der Oberschüler Jörg Thon in einem Zeltlager der Freien Deutschen Jugend (FDJ) mit Egon Krenz und Margot Honecker führende Politiker der DDR-Staatspartei SED bekocht. Am 9. November 1989 war Egon Krenz Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzende der erodierenden DDR.

„Seit Mitte der 1980er Jahre wuchs in der DDR die Unzufriedenheit mit dem SED-Regime. Zwar hatten alle Arbeit, ein Dach über dem Kopf und keine musste hungern. Aber die Menschen wollten sich nicht mehr einsperren und bevormunden lassen. Sie vermissten Reise- und Meinungsfreiheit. Ein Onkel und eine Tante, die 1987 bei einem Fluchtversuch verhaftet worden waren, mussten ins Gefängnis“, beschreibt Jörg Thon die gesellschaftspolitische Situation in der Vor-Wende-Zeit. „Dennoch waren wir im November 1989 sehr unsicher, ob man der neuen Freiheit trauen könne und die Grenzen nicht doch wieder geschlossen würden“, erklärt Janet Thon, warum es einige Wochen dauerte, bevor ihr späterer Mann und sie Verwandte in Nürnberg und Mülheim besuchten.


Beide kannten aus ihrer Heimat das tägliche Schlange-Stehen und das lange Warten auf Konsumgüter. Umso mehr waren sie von der Warenfülle in den westdeutschen Geschäften überwältigt und auch mit ihrem Begrüßungsgeld von 100 D-Mark-West ein wenig überfordert. Drei Monate nach dem Mauerfall erfuhr, Jörg Thon, dass sozialistische Binnenhandelsmeister jetzt nicht mehr gebraucht würden. Dass war der Zeitpunkt, an dem er sich entschloss mit seinem „Speisen-Lehrbuch“ aus dem „VEB Fachbuchverlag Leipzig“ im Gepäck nach Westen zu gehen. Seine Verlobte Janet ging mit. „Denn hier hast du keine Zukunft!“, hatte ihre die Mutter mit auf den Weg gegeben. Tante Anni und Onkel Walter, die in Mülheim einen Friseursalon betrieben, halfen dem jungen Paar Wohnung und Arbeit zu finden. Das Speldorfer Gasthaus Tannenhof wurde für sie zur beruflichen Startbahn, die sie 1993 in den Ratskeller bringen sollte.


Heute denken die Thons mit „gemischten Gefühlen“ an ihre ersten Mülheimer Jahre zurück, in denen sie nicht nur auf freundliche Offenheit und Hilfsbereitschaft, sondern auch auf Menschen trafen, die ihre Unerfahrenheit mit den Geflogenheiten der manchmal eben so gar nicht sozialen Marktwirtschaft zu ihrem Nachteil ausnutzten.


Doch auch wenn die Thons, die inzwischen stolze Eltern einer 18-jährigen Tochter sind, lernen mussten, dass auch die politische und wirtschaftliche Freiheit ihre Schattenseiten hat, bleiben Mauerfall und Wiedervereinigung für sie „eine glückliche Fügung“, die sie dankbar sein „und keinen alten Zeiten nachtrauern lässt.“


HINTERGRUND:



Wie sehen die aus Thüringen stammenden und heute in Mülheim heimischen Thons 30 Jahre nach dem Mauerfall die Lage der sei 1990 wiedervereinigten Nation? In ihrer alten wie in ihrer neuen Heimat sehen sie mit Sorge, dass sich auch Menschen, denen es sozial und wirtschaftlich gut geht, radikalisieren und sich aus der gesellschaftlichen Mitte verabschieden. Als Gründe für diese ungute Entwicklung unseres Landes sehen sie wachsende Verlustängste des Mittelstandes, unzureichende politische Bildung und eine unzureichende Zuverlässigkeit und Transparenz politischer Entscheidungen. „Wir brauchen in unserer Gesellschaft wieder mehr Ehrlichkeit, Rücksichtnahme, Respekt und Zusammenhalt. Denn wenn jeder nur auf sich selbst schaut, kommen wir nicht weiter“, glaubt Jörg Thon.

Dieser Text erschien am 9. November 2019 in NRZ & WAZ

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