„Ich habe damals im Keller meines Elternhauses an meinem
Motorrad herumgeschraubt und im Radio die von Thomas Gottschalk moderierte
Hitparade von Bayern 3 gehört“, erinnert sich der im thüringischen Gera
geborene und aufgewachsene Jörg Thon, an den Abend des 9. November 1989. Als
die Musik plötzlich mit der Nachricht unterbrochen wurde, dass der
Regierungssprecher der DDR, Günter Schabowski, soeben mitgeteilt habe: „Privatreisen nach dem Ausland können
ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse)
beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen
Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise
unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für
eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.“ Thon:
„Ich habe das erst gar nicht richtig registriert. Erst als diese Nachricht um
20 Uhr wiederholt wurde, bin ich hoch zu meinen Eltern und habe sie gefragt,
was man davon halten könne. Auch Thons Frau Janet erinnert sich an ein Gespräch
mit ihren Eltern, ob man dieser Nachricht trauen könne und was sie zu bedeuten
habe.
Janet und Jörg Thon, die heute als Gastronomen den
Ratskeller und den Bürgergarten betreiben, waren damals noch nicht verheiratet,
aber schon ein Paar. Beide waren damals Anfang 20 und hatten sich wenige Jahre
zuvor in der Tanzschule kennen gelernt. Sie arbeitete 1989 als angehende
Bürokauffrau bei der Stadtverwaltung Gera. Er baute damals an der dortigen
Fachhochschule seinen sozialistischen Binnenhandelsmeister. Der sollte ihn
dafür qualifizieren, den Gastronomiebetrieb des Veranstaltungshauses in Gera zu
übernehmen.
Wenige Jahre zuvor hatte der Oberschüler Jörg Thon in einem
Zeltlager der Freien Deutschen Jugend (FDJ) mit Egon Krenz und Margot Honecker führende
Politiker der DDR-Staatspartei SED bekocht. Am 9. November 1989 war Egon Krenz Generalsekretär
der SED und Staatsratsvorsitzende der erodierenden DDR.
„Seit Mitte der 1980er Jahre wuchs in der DDR die
Unzufriedenheit mit dem SED-Regime. Zwar hatten alle Arbeit, ein Dach über dem
Kopf und keine musste hungern. Aber die Menschen wollten sich nicht mehr
einsperren und bevormunden lassen. Sie vermissten Reise- und Meinungsfreiheit. Ein
Onkel und eine Tante, die 1987 bei einem Fluchtversuch verhaftet worden waren,
mussten ins Gefängnis“, beschreibt Jörg Thon die gesellschaftspolitische
Situation in der Vor-Wende-Zeit. „Dennoch waren wir im November 1989 sehr
unsicher, ob man der neuen Freiheit trauen könne und die Grenzen nicht doch
wieder geschlossen würden“, erklärt Janet Thon, warum es einige Wochen dauerte,
bevor ihr späterer Mann und sie Verwandte in Nürnberg und Mülheim besuchten.
Beide kannten aus ihrer Heimat das tägliche Schlange-Stehen
und das lange Warten auf Konsumgüter. Umso mehr waren sie von der Warenfülle in
den westdeutschen Geschäften überwältigt und auch mit ihrem Begrüßungsgeld von
100 D-Mark-West ein wenig überfordert. Drei Monate nach dem Mauerfall erfuhr,
Jörg Thon, dass sozialistische Binnenhandelsmeister jetzt nicht mehr gebraucht
würden. Dass war der Zeitpunkt, an dem er sich entschloss mit seinem „Speisen-Lehrbuch“
aus dem „VEB Fachbuchverlag Leipzig“ im Gepäck nach Westen zu gehen. Seine
Verlobte Janet ging mit. „Denn hier hast du keine Zukunft!“, hatte ihre die
Mutter mit auf den Weg gegeben. Tante Anni und Onkel Walter, die in Mülheim
einen Friseursalon betrieben, halfen dem jungen Paar Wohnung und Arbeit zu
finden. Das Speldorfer Gasthaus Tannenhof wurde für sie zur beruflichen
Startbahn, die sie 1993 in den Ratskeller bringen sollte.
Heute denken die Thons mit „gemischten Gefühlen“ an ihre
ersten Mülheimer Jahre zurück, in denen sie nicht nur auf freundliche Offenheit
und Hilfsbereitschaft, sondern auch auf Menschen trafen, die ihre
Unerfahrenheit mit den Geflogenheiten der manchmal eben so gar nicht sozialen
Marktwirtschaft zu ihrem Nachteil ausnutzten.
Doch auch wenn die Thons, die inzwischen stolze Eltern einer
18-jährigen Tochter sind, lernen mussten, dass auch die politische und
wirtschaftliche Freiheit ihre Schattenseiten hat, bleiben Mauerfall und
Wiedervereinigung für sie „eine glückliche Fügung“, die sie dankbar sein „und
keinen alten Zeiten nachtrauern lässt.“
HINTERGRUND:
Wie sehen die aus Thüringen stammenden und heute in Mülheim heimischen Thons 30 Jahre nach dem Mauerfall die Lage der sei 1990 wiedervereinigten Nation? In ihrer alten wie in ihrer neuen Heimat sehen sie mit Sorge, dass sich auch Menschen, denen es sozial und wirtschaftlich gut geht, radikalisieren und sich aus der gesellschaftlichen Mitte verabschieden. Als Gründe für diese ungute Entwicklung unseres Landes sehen sie wachsende Verlustängste des Mittelstandes, unzureichende politische Bildung und eine unzureichende Zuverlässigkeit und Transparenz politischer Entscheidungen. „Wir brauchen in unserer Gesellschaft wieder mehr Ehrlichkeit, Rücksichtnahme, Respekt und Zusammenhalt. Denn wenn jeder nur auf sich selbst schaut, kommen wir nicht weiter“, glaubt Jörg Thon.
Dieser Text erschien am 9. November 2019 in NRZ & WAZ
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