30
Jahre nach dem Mauerfall richteten die beiden Mülheimer Jutta Loose (70) und
Dieter Schilling (80) als Autoren der örtlichen Zeitzeugenbörse ihren ganz
eigenen Blick auf die DDR und das SED-Regime. Die gutbesuchte Lesung in der
Buchhandlung am Löhberg zeigte, dass die Wiedervereinigung Deutschlands allen
aktuellen Herausforderungen zum Trotz ein Glücksfall der Geschichte war.
Es
waren zwei sehr unterschiedliche Perspektiven, die Jutta Loose und Dieter
Schilling ihren interessierten Zuhörern eröffneten. Loose schaute von außen auf
die DDR, mit der sie durch die Familie ihres Mannes verbunden war. Sie
berichtete zum Beispiel vom schauderhaften Besuch an der innerdeutschen Grenze,
an der sie unter anderem die Selbstschussanlagen entdeckte, die sogenannte
Republikflüchtlinge töten sollten. Sie erzählte von Lebensmittelpakten an die
Verwandtschaft in Meißen, von fingierten Todesnachrichten der DDR-Staatssicherheit,
von ruinenhaft heruntergekommenen und trotzdem noch bewohnten Häusern im Ostteil
Berlins und davon, dass ihr Schwiegervater als Angehöriger der Bundeswehr seine
Eltern in der DDR nicht besuchen konnte und auch an ihrer Beerdigung nicht teilnehmen
durfte.
Loose
schilderte aber auch ihre positiven Erfahrungen, die sie mit den Menschen in
Ostdeutschland und mit den sich nach der Wiedervereinigung angleichenden
Lebensverhältnissen machen konnte. Loose: „Wir haben uns gut verstanden, weil
wir auf Augenhöhe miteinander sprachen, uns füreinander interessierten und über
dieselben Dinge lachen konnten.“
Als
in Halle an der Saale geborener und später dort als Ingenieur für das
Zentralinstitut für Schweißtechnik tätiger Ingenieur lieferte Dieter Schilling
eine bemerkenswerte Innenansicht der DDR, in der ganz selbstverständlich auch
ein Bevollmächtigter der Staatssicherheit zu seinen Kollegen gehörte. Der
achtete nicht nur darauf, dass nur ja keine Betriebsgeheimnisse in die Hände
des Klassenfeindes gerieten, sondern forderte auch Berichte über Kollegen an. „Als
Ingenieur gehörte ich an unserem Institut zu den sogenannten Reisekadern, die
in die Bundesrepublik und ins westliche Ausland reisen durften, was bei vielen
meiner Nachbarn und Kollegen leider Misstrauen erweckte und mich in ihren Augen
verdächtig machte“, erinnert sich Schilling, der selbst natürlich auch von der
Staatssicherheit überprüft wurde. Unvergessen bleibt ihm ein Institutskollege,
der seinen Arbeitsplatz verlor, weil die Stasi von einem ihrer westdeutschen
Spitzel erfahren hatte, dass dieser Kollege bei einem dienstlichen Besuch in
der Bundesrepublik einen politischen Witz über die DDR-Führung erzählt hatte.
Erschreckend war auch sein Bericht darüber, dass in dem von Staatswegen
atheistischen SED-Staat keine Kirchenmitglieder zum Studium zu gelassen wurden.
Die
von Jutta Loose geschilderten heruntergekommenen und eigentlich unbewohnbaren
Häuser in Ost-Berlin und in anderen Städten der DDR erklärte Schilling mit dem staatlichen
Mietdiktat. „Ich habe Ende der 1960er Jahre für eine 80 Quadratmeter große
Wohnung nur 88 Mark Miete bezahlt. Aber das führte eben auch dazu, dass
Hauseigentümer keine Gewinne erwirtschaften und diese in die Renovierung ihrer
Immobilien investieren konnten.“ Und so flohen auch Schilling und seine Frau
1982 aus der DDR nach Westdeutschland, weil sie die Misswirtschaft in der DDR
nicht mehr aushielten. „Denn dort war das Geld nichts mehr wert und die
Versorgung mit fast allen Konsumgütern allein von persönlichen Beziehungen abhängig“,
erinnert sich Zeitzeuge Dieter Schilling.
Hintergrund
Allein
bis zum Mauerbau am 13. August 1961 verließen mehr als zwei Millionen Menschen
die DDR und sorgten damit dort für einen existenzgefährdenden Fachkräftemangel.
In Mülheim bemühten sich unter anderem der Saarner Pastor Ewald Luhr und seine
Frau Luise während der 1950er Jahre um DDR-Flüchtlinge, die unter anderem in
einem Übergangswohnheim an der Düsseldorfer Straße untergebracht wurden. Die in
den 1960er Jahren begonnene Ostpolitik erleichterte den deutsch-deutschen
Reiseverkehr vor allem für Rentner. Der Mit-Initiator der Mülheimer Zeitzeugenbörse,
Ralf Zabelberg, wies darauf hin, dass die zehn Milliarden D-Mark, die die
Bundesrepublik jährlich als Transitgebühren an die DDR zahlte, eine wichtige
Deviseneinnahme für den SED-Staat darstellte. Mehr Informationen zur Mülheimer
Zeitzeugenbörse gibt es unter: zeitzeugenboerse@gmx.de
und: https://unser-quartier.de/zzb- muelheim/startseite/
Dieser Text erschien am 24. November 2019 in der NRZ und in der WAZ
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