Donnerstag, 1. August 2019

"Ich möchte nicht als Bittstellerin behandelt werden!"

In Deutschland sind 3 Millionen Menschen pflegebedürftig. 2 Millionen von ihnen werden von Angehörigen zu Hause gepflegt. Wie ergeht es ihnen? Eine Mülheimerin (72), die ihren an Alzheimer erkranken Ehemann pflegt, berichtet:
Ich will mein Ehemann pflegen. Wir haben uns versprochen, dass wir uns in guten und in schlechten Zeiten beistehen. Heute lebe ich das Leben meines Mannes. Durch seine Alzheimererkrankung ist er hilfsbedürftig, orientierungslos und ängstlich. Er ist er auf mich fixiert. Er wird unruhig, sobald ich aus seinem Blickfeld verschwinde.

Vieles geht nicht mehr

Urlaub, Ausflüge, Museumsbesuche, Spaziergänge, Gespräche! Was früher selbstverständlich war, geht heute kaum oder gar nicht.
Wenn wir gemeinsam mit dem Hund rausgehen, im Café ein Eis essen, einkaufen oder einen Imbiss einnehmen, ist das schon was Besonderes.
Die Alzheimererkrankung meines Mannes wurde 2016 sichtbar, als er sich immer öfter verfuhr oder verlief, was früher nie vorkam. Er hat aggressiv auf seiner Erkrankung reagiert, die er nicht wahrhaben wollte. Sein Zustand hat sich kontinuierlich verschlechtert. Er hat auch helle Momente. Manchmal weint er, wenn er seine Hilflosigkeit realisiert.
Mein Mann ist ein humorvoller Mensch. Manchmal kann ich die Situation dadurch entspannen, dass ich etwas Lustiges erzähle oder ihm etwas vorsinge. Mein Mann braucht einen festen Tagesablauf. Jede Veränderung macht ihn unruhig und ängstlich. Besonders wichtig sind ihm das morgendliche Marmeladenbrot, das gemeinsame Mittagessen und sein Kakao am Abend. Einkäufe oder Restaurantbesuche sind schwierig und von der Tagesform eines Mannes abhängig. Er kann nicht abwarten, wenn wir im Supermarkt vor der Kasse in der Schlange stehen oder im Restaurant auf unser Essen warten müssen. Leider erlebe ich es immer wieder, dass Menschen darüber lachen wie ich mit meinem Mann rede, wenn ich ihn beruhigen möchte.

Mehr Einfühlungsvermögen der Umwelt gewünscht

Ich wünsche mir mehr Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft. Menschen, die mich bemitleiden und mir vorjammern wie schlimm alles ist, kann ich nicht gebrauchen. Ich weiß wie schwierig es ist. Aber ich bin ein Verstandesmensch und nehme das Leben wie es kommt, weil ich gelernt habe, mit schwierigen Situationen im Leben umzugehen. Ich glaube, dass wir ein vorbestimmtes Schicksal haben und uns unseren Lebensaufgaben stellen müssen.
Mindestens einmal am Tag wird mein Mann bockig. Diese Blockaden brechen etwa auf, wenn ich ihn wasche oder ihm abends beim Auskleiden helfe und er ins Bett gehen soll. Ich habe meinen Mann abends schon mal in seiner Alltagskleidung im Sessel sitzen lassen, weil er sich nicht ausziehen und nicht ins Bett gehen wollte. Es gibt Situationen, bei denen auch das beste Zureden keinen Sinn hat und man die Situation nehmen muss wie sie ist. Sonst verschwendet man seine Energie. Mein Ehemann ist an 3 Tagen in der Woche, jeweils von 8 bis 16 Uhr, in einer Tagespflegegruppe, in der er professionell betreut wird und im Rahmen seiner Möglichkeiten mit anderen Alzheimerpatienten seinen Tag kreativ und sinnvoll gestalten kann.
"Diese Entlastung ist für mich wie der Himmel auf Erden. Dann kann ich alles erledigen, was sonst liegen bleibt, weil ich mich um meinen Mann kümmern muss."
Pflegende Angehörige (72)
Dann kann ich ungestört ausschlafen. Das ist nachts kaum möglich, da mein Mann nachtaktiv ist und kein Zeitgefühl hat. Auch wenn ich von Freunden eingeladen werde oder mich mit anderen pflegenden Angehörigen treffe, muss ich eine Betreuung für mein Mann organisieren und finanzieren.
Durch die Pflegebedürftigkeit meines Mannes sind die sozialen Kontakte stark eingeschränkt. Viele Aktivitäten musste ich aufgeben. Auch die Nachbarn können nur selten helfen, weil sie keine Zeit oder kein Interesse haben oder selbst alt und pflegebedürftig sind. Meine Kinder können mich nur teilweise unterstützen, da sie nicht in Mülheim leben. Ich habe aber eine sehr engagierte und verantwortungsbewusste Haushaltshilfe gefunden, die mich im Alltag unterstützt und entlastet.
Einen Kurzzeitpflegeplatz für meinen Mann zu finden, wenn ich Urlaub machen möchte, ist wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Die vorhandenen Kurzzeitpflegeplätze in den Pflegeheimen haben sich rapide reduziert, weil die Einrichtungen im Zuge des Bundesteilhabegesetzes nur noch Einzelzimmer für ihre Bewohner haben dürfen. 

Geschenk des Himmels: Die Haushaltshilfe

Einen Kurzzeitpflegeplatz für meinen Mann zu finden, wenn ich Urlaub machen möchte, ist wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Die vorhandenen Kurzzeitpflegeplätze in den Pflegeheimen haben sich rapide reduziert, weil die Einrichtungen im Zuge des Bundesteilhabegesetzes nur noch Einzelzimmer für ihre Bewohner haben dürfen.
Durch die Umbaumaßnahmen und den Wegfall von Zweibettzimmern sind viele Kurzzeitpflegeplätze weggefallen. Im April hatte ich Glück. In einem Pflegeheim an der Nordsee habe ich einen Kurzzeitpflegeplatz für meinen Mann gefunden. Gleichzeitig konnte ich dort mit meiner Familie Urlaub machen. In Mülheim einen Kurzzeitpflegeplatz zu finden, ist derzeit faktisch unmöglich. Wann ich wieder einen Kurzzeitpflegeplatz für meinen Mann finde und Urlaub machen kann, ist ungewiss.
Die Leistungen der Pflegeversicherung decken nicht alle finanziellen Belastungen ab, die mit der Krankheit und der Pflegebedürftigkeit meines Mannes einhergehen. Doch sie sind für mich eine große Hilfe. Mit ihnen kann ich die Tagespflege für meinen Mann und eine gelegentliche Betreuung finanzieren, wenn ich das Haus verlassen muss.

Mehr Hilfe, weniger Bürokratie

Mein Wunsch? Die Menschen sollen sich mit den Themen Alzheimer und Pflegebedürftigkeit auseinandersetzen und so mehr Verständnis für die Situation pflegebedürftiger Menschen und pflegender Angehöriger bekommen. Auch eine Bürgerversicherung, in die alle Bürger einzahlen müssen, um die sozialen Sicherungssysteme mitzufinanzieren, fände ich gut. Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir in Deutschland die Pflegekosten durch unsere Steuereinnahmen finanzieren und damit auf alle Schultern verteilen. Wir brauchen mehr Menschen, die sich um pflegebedürftige Menschen kümmern und weniger Menschen, die den Pflegebürokratie verwalten. Ich will als pflegende Angehörige bei der Pflegekasse und beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen nicht herablassend als Bittstellerin behandelt werde.

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