Montag, 12. August 2019

Als Mülheim die Wahl hatte


Der ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete Franz Püll war 22 Jahre jung und frischgebackener Schornsteinfegergeselle , als er am 14. August 1949 zum ersten Mal seine Stimme abgeben konnte. Im Gespräch mit dieser Zeitung erinnert er sich an die erste Bundestagswahl vor 70 Jahren.



Frage: Viele Deutsche wollten kurz nach dem Ende von Krieg und Diktatur

nichts mehr von Politik und Parteien wissen. Wie ging es ihnen?



Antwort: Auch mir war die Erinnerung an die NS-Diktatur und den Krieg noch gegenwärtig. Zu den schlimmsten Erlebnissen meiner Kindheit und Jugend gehörte der Tag nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938, als ich miterleben musste wie der Vater meines jüdischen Freundes Julius mit einem Schild um den Hals hängend durch die Stadt geführt wurde, auf dem stand: „Ich bin ein Judenschwein“. Ebenfalls in schrecklicher Erinnerung geblieben ist mir der Luftangriff auf den Flughafen Essen Mülheim am 24. Dezember 1944. Wir wohnten damals am Schürfeld und wären mit Sicherheit auch in den Hochbunker an der Windmühlenstraße gegangen, dessen Insassen bei dem

Luftangriff zum größten Teil ums Leben kamen, wenn wir nicht über

Weihnachten zu meiner nach Thüringen evakuierten Mutter gefahren wären. Meine Kindheit und Jugend im nationalsozialistischen Deutschland hatten mich gegenüber der Politik, Parteien und Politikern eher skeptisch gemacht.



Frage: Waren sie damals ein unpolitischer Mensch?



Antwort: Das kann ich so nicht sagen. Ich war damals schon Gesellenvertreter meiner Kollegen im Schornsteinfegerhandwerk und setzte mich darum für eine Verbesserung ihrer Ausbildungs,- Arbeits- und Aufstiegsbedingungen ein. Aber ich war zum damaligen Zeitpunkt noch kein Mitglied der CDU. Dafür hat erst der spätere CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Max Vehar in den 1960er -Jahren gesorgt. Damals war er auf mich aufmerksam geworden, da ich zum Vize Präsidenten der Handwerkskammer Düsseldorf gewählt worden

war.



Frage: Wie erinnern Sie sich an die Stimmungslage im Wahljahr 1949?



Antwort: Damals waren mein Vater Franz , mein Bruder Herbert und ich mit dem Bau unseres Hauses an der Neudecker Straße beschäftigt. Da mussten wir ganz schön schuften und Steine klopfen. Wir haben unser Haus praktisch aus Trümmersteinen gebaut. Die Währungsreform, die uns die D-Mark gebracht hatte, lag ein gutes Jahr zurck. Es ging langsam wirtschaftlich aufwärts, aber der Stadt waren noch überall Trümmer und die Wunden des Krieges zu sehen. Der Wahlkampf wurde damals vor allem über die Frage geführt, ob es in Westdeutschland eine soziale Marktwirtschaft, wie sie Konrad Adenauer und die CDU wollten oder ob es eine staatlich gelenkte Planwirtschaft und sozialisierte Industrieunternehmen geben sollte, wofür Kurt Schumacher und

die SPD eintraten. Ich erinnere mich daran, dass vor allem die Bergarbeiter in Mülheim die Sozialdemokraten unterstützt haben, während sich viele andere Arbeiter   auch von der CDU angezogen fühlten. Die CDU wurde damals keineswegs nur von Unternehmern und Freiberuflern gewählt. Die Parteien warben damals vor allem mit Plakaten, Versammlungen und in den ihnen nahestehenden Zeitungen um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler.



Frage: Sympathisierten Sie damals schon mit der CDU oder interessierten Sie sich auch für eine andere Partei?



Antwort: Mein Vater hatte in der Weimarer Republik die katholische

Zentrumspartei gewählt und ich erinnere mich daran, dass wir es in unserer Familie begrüßten, dass sich 1945 mit der CDU eine überkonfessionelle christliche Volkspartei gebildet hatte. Konrad Adenauer kannten wir schon als Kölner Oberbürgermeister und wir erlebten ihn als einen sehr selbstbewussten und erfahrenen Politiker, der es trotz der schwierigen Rahmenbedingungen, die damals herrschten, vermochte, den Menschen neues Selbstvertrauen einzuflößen. Deshalb hat mir seine Persönlichkeit sehr imponiert und ich habe am 14. August 1949 der CDU meine Stimme gegeben, weil ich sie als die stabilste politische Kraft In Deutschland ansah und die Idee der Volkspartei unterstützte. Als Konrad Adenauer später die Wiederbewaffnung durchsetzte, fand ich das zunächst nicht gut, musste später aber einsehen, dass es der richtige Schritt gewesen war.



Frage: Was war 1949 anders als 2019? Warum entstanden mit der Union und der SPD damals zwei große Volksparteien, während sich heute viele Menschen von den Volksparteien abwenden?



Antwort: 1949 war eine andere Zeit. Nach der Erfahrung von Diktatur und

Krieg wollten die Menschen Deutschland gemeinsam wiederaufbauen. Anders als heute, waren die christlichen Kirchen voll. Die Menschen suchten und fanden eine neue moralische Orientierung für ihr Leben. Das ist heute ganz anders. Die Menschen sind egoistischer geworden und wenden sich von den Kirchen ab, was dazu führt, dass sie ihre moralische Orientierung immer mehr verlieren.



Frage: Was würden Sie aus Ihrer langen Lebenserfahrung heraus heutigen

Wählern und Gewählten raten?



Antwort: Wir müssen erkennen, dass uns nur das Prinzip der christlichen

Nächstenliebe als Gesellschaft weiterbringt. Der pure Egoismus führt in die

Sackgasse. Ich glaube auch weiterhin, dass wir Volksparteien brauchen, die einen gesellschaftlichen Interessenausgleich herstellen.



Frage: Wofür würden sie sich heute gerne einsetzen, wenn Sie noch einmal als Abgeordneter in einem Parlament mitentscheiden könnten?



Antwort: Dann würde ich mich dafür einsetzen, dass die Straßenbaubeiträge, die Bürger als Hauseigentümer in nicht unerheblichem Maße bezahlen müssen, ganz abgeschafft werden. Denn der Straßenbau wird mit Steuergeldern finanziert, die Bürger an den Staat entrichtet haben. Deshalb ist diese zusätzliche Abgabe nicht zu rechtfertigen. Wenn den Hauseigentümern suggeriert wird, dass durch den Straßenneubau eine Wertsteigerung ihrer Immobilie erfolgt, ist dies unzutreffend!



Hintergrund:




Am 14. August 1949 waren 102.000 Mülheim aufgerufen, den ersten Deutschen Bundestag mit-zu-wählen. 77 Prozent der Wahlberechtigten nahmen in 97 Wahllokalen von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Mit 34 Prozent der Stimmen wurde der Sozialdemokrat Otto Striebeck, damals Redaktionsleiter der Mülheimer NRZ, zum ersten Mülheimer Bundestagsabgeordneten gewählt. Mit 28 Prozent der abgegebenen Stimmen landete der Christdemokrat Heinz Langner, Leiter

der Inneren Mission, auf dem zweiten Platz, gefolgt von dem der FDP angehörenden Bürgermeister und Betriebswirt Wilhelm Dörnhaus, der 13 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. 10 Prozent der Wähler entschieden sich für den Betriebsratsvors tzenden des Eisenbahnausbesserungswerkes, Friederich Müllerstein, der für die KPD kandidierte. 7 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für den Rechtsanwalt Günther Kujath, der für die rechtsnationale Deutsche Reichspartei antrat. Der Kandidat der katholischen Zentrumspartei, Josef Hanbrück erhielt 3 Prozent der Stimme. 

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