Der
ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete Franz Püll war 22 Jahre
jung und frischgebackener Schornsteinfegergeselle , als er am 14. August 1949
zum ersten Mal seine Stimme abgeben konnte. Im Gespräch mit dieser Zeitung
erinnert er sich an die erste Bundestagswahl vor 70 Jahren.
Frage:
Viele Deutsche wollten kurz nach dem Ende von Krieg und Diktatur
nichts
mehr von Politik und Parteien wissen. Wie ging es ihnen?
Antwort:
Auch mir war die Erinnerung an die NS-Diktatur und den Krieg noch gegenwärtig.
Zu den schlimmsten Erlebnissen meiner Kindheit und Jugend gehörte der Tag nach
der Reichspogromnacht am 9. November 1938, als ich miterleben musste wie der
Vater meines jüdischen Freundes Julius mit einem Schild um den Hals hängend
durch die Stadt geführt wurde, auf dem stand: „Ich bin ein Judenschwein“.
Ebenfalls in schrecklicher Erinnerung geblieben ist mir der Luftangriff auf den
Flughafen Essen Mülheim am 24. Dezember 1944. Wir wohnten damals am Schürfeld
und wären mit Sicherheit auch in den Hochbunker an der Windmühlenstraße
gegangen, dessen Insassen bei dem
Luftangriff
zum größten Teil ums Leben kamen, wenn wir nicht über
Weihnachten
zu meiner nach Thüringen evakuierten Mutter gefahren wären. Meine Kindheit und
Jugend im nationalsozialistischen Deutschland hatten mich gegenüber der
Politik, Parteien und Politikern eher skeptisch gemacht.
Frage:
Waren sie damals ein unpolitischer Mensch?
Antwort:
Das kann ich so nicht sagen. Ich war damals schon Gesellenvertreter meiner
Kollegen im Schornsteinfegerhandwerk und setzte mich darum für eine Verbesserung
ihrer Ausbildungs,- Arbeits- und Aufstiegsbedingungen ein. Aber ich war zum damaligen
Zeitpunkt noch kein Mitglied der CDU. Dafür hat erst der spätere
CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Max Vehar in den 1960er -Jahren
gesorgt. Damals war er auf mich aufmerksam geworden, da ich zum Vize
Präsidenten der Handwerkskammer Düsseldorf gewählt worden
war.
Frage:
Wie erinnern Sie sich an die Stimmungslage im Wahljahr 1949?
Antwort:
Damals waren mein Vater Franz , mein Bruder Herbert und ich mit dem Bau unseres
Hauses an der Neudecker Straße beschäftigt. Da mussten wir ganz schön schuften
und Steine klopfen. Wir haben unser Haus praktisch aus Trümmersteinen gebaut.
Die Währungsreform, die uns die D-Mark gebracht hatte, lag ein gutes Jahr
zurck. Es ging langsam wirtschaftlich aufwärts, aber der Stadt waren noch
überall Trümmer und die Wunden des Krieges zu sehen. Der Wahlkampf wurde damals
vor allem über die Frage geführt, ob es in Westdeutschland eine soziale
Marktwirtschaft, wie sie Konrad Adenauer und die CDU wollten oder ob es eine
staatlich gelenkte Planwirtschaft und sozialisierte Industrieunternehmen geben
sollte, wofür Kurt Schumacher und
die
SPD eintraten. Ich erinnere mich daran, dass vor allem die Bergarbeiter in
Mülheim die Sozialdemokraten unterstützt haben, während sich viele andere
Arbeiter auch von der CDU angezogen fühlten. Die CDU
wurde damals keineswegs nur von Unternehmern und Freiberuflern gewählt. Die Parteien
warben damals vor allem mit Plakaten, Versammlungen und in den ihnen
nahestehenden Zeitungen um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler.
Frage:
Sympathisierten Sie damals schon mit der CDU oder interessierten Sie sich auch
für eine andere Partei?
Antwort:
Mein Vater hatte in der Weimarer Republik die katholische
Zentrumspartei
gewählt und ich erinnere mich daran, dass wir es in unserer Familie begrüßten,
dass sich 1945 mit der CDU eine überkonfessionelle christliche Volkspartei
gebildet hatte. Konrad Adenauer kannten wir schon als Kölner Oberbürgermeister
und wir erlebten ihn als einen sehr selbstbewussten und erfahrenen Politiker,
der es trotz der schwierigen Rahmenbedingungen, die damals herrschten,
vermochte, den Menschen neues Selbstvertrauen einzuflößen. Deshalb hat mir
seine Persönlichkeit sehr imponiert und ich habe am 14. August 1949 der CDU
meine Stimme gegeben, weil ich sie als die stabilste politische Kraft In
Deutschland ansah und die Idee der Volkspartei unterstützte. Als Konrad
Adenauer später die Wiederbewaffnung durchsetzte, fand ich das zunächst nicht
gut, musste später aber einsehen, dass es der richtige Schritt gewesen war.
Frage:
Was war 1949 anders als 2019? Warum entstanden mit der Union und der SPD damals
zwei große Volksparteien, während sich heute viele Menschen von den
Volksparteien abwenden?
Antwort:
1949 war eine andere Zeit. Nach der Erfahrung von Diktatur und
Krieg
wollten die Menschen Deutschland gemeinsam wiederaufbauen. Anders als heute,
waren die christlichen Kirchen voll. Die Menschen suchten und fanden eine neue
moralische Orientierung für ihr Leben. Das ist heute ganz anders. Die Menschen
sind egoistischer geworden und wenden sich von den Kirchen ab, was dazu führt,
dass sie ihre moralische Orientierung immer mehr verlieren.
Frage:
Was würden Sie aus Ihrer langen Lebenserfahrung heraus heutigen
Wählern
und Gewählten raten?
Antwort:
Wir müssen erkennen, dass uns nur das Prinzip der christlichen
Nächstenliebe
als Gesellschaft weiterbringt. Der pure Egoismus führt in die
Sackgasse.
Ich glaube auch weiterhin, dass wir Volksparteien brauchen, die einen
gesellschaftlichen Interessenausgleich herstellen.
Frage:
Wofür würden sie sich heute gerne einsetzen, wenn Sie noch einmal als
Abgeordneter in einem Parlament mitentscheiden könnten?
Antwort:
Dann würde ich mich dafür einsetzen, dass die Straßenbaubeiträge, die Bürger
als Hauseigentümer in nicht unerheblichem Maße bezahlen müssen, ganz
abgeschafft werden. Denn der Straßenbau wird mit Steuergeldern finanziert, die
Bürger an den Staat entrichtet haben. Deshalb ist diese zusätzliche Abgabe nicht
zu rechtfertigen. Wenn den Hauseigentümern suggeriert wird, dass durch den Straßenneubau eine
Wertsteigerung ihrer Immobilie erfolgt, ist dies unzutreffend!
Hintergrund:
Am
14. August 1949 waren 102.000 Mülheim aufgerufen, den ersten Deutschen Bundestag
mit-zu-wählen. 77 Prozent der Wahlberechtigten nahmen in 97 Wahllokalen von
ihrem Stimmrecht Gebrauch. Mit 34 Prozent der Stimmen wurde der Sozialdemokrat
Otto Striebeck, damals Redaktionsleiter der Mülheimer NRZ, zum ersten Mülheimer
Bundestagsabgeordneten gewählt. Mit 28 Prozent der abgegebenen Stimmen landete
der Christdemokrat Heinz Langner, Leiter
der
Inneren Mission, auf dem zweiten Platz, gefolgt von dem der FDP angehörenden
Bürgermeister und Betriebswirt Wilhelm Dörnhaus, der 13 Prozent
der Stimmen auf sich vereinigen konnte. 10 Prozent der Wähler entschieden
sich für den Betriebsratsvors tzenden des Eisenbahnausbesserungswerkes,
Friederich Müllerstein, der für die KPD kandidierte.
7 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für den Rechtsanwalt Günther Kujath,
der für die rechtsnationale Deutsche Reichspartei antrat. Der Kandidat der
katholischen Zentrumspartei, Josef Hanbrück erhielt 3 Prozent der Stimme.
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