Ausgerechnet ein Termin bei ihrer Hals-Nasen-Ohren-Ärztin sorgte
jetzt dafür, dass Mutter Hören und Sehen verging. Denn ein defekter Aufzug im
Ärztehaus bremste sie mit ihrem Rollator aus und ließ sie ihre Ärztin erst gar
nicht zu Gesicht bekommen. Als ihr beweglicher Begleiter erfuhr ich in der oben
gelegenen HNO-Praxis, dass die Ärztin bereits vom defekten Aufzug gehört habe, und
sich „gleich“ im Erdgeschoss bei Mutter blicken lassen wolle. Aus dem Gleich
wurde eine ganze Weile, in der Mutters Geduld und Kondition auf die Folter
gespannt wurde, ehe ihre Ärztin in ihre Niederung hinabstieg, um in ihren Ohren
nach dem Rechten zu sehen. Während die vielbeschäftigte Ärztin das Gefühl
hatte, sich überschlagen zu haben, um schnellstmöglich ihre wie bestellt und
nicht abgeholt zwischen Tür und Angel wartende Patientin n die Niederungen
ihrer im Hausflur wartenden Patientin zu behandeln, hatte diese ihrerseits das Gefühl
eine halbe Ewigkeit auf ihre Ärztin gewartet zu haben. Die Szene im Ärztehaus
erschien mir wie ein Sinnbild unserer Gesellschaft, in der wir alle eine
Hausgemeinschaft bilden, aber manchmal in zwei unterschiedlichen Zeitzonen und
Welten leben. Während in den oberen Etagen mit dem Gefühl, dass die Zeit
wegläuft, fieberhaft an Problemen herumgedoktert und nach Erfolgsrezepten
gesucht wird, haben die Mühlseligen und Beladenen im Erdgeschoss das Gefühl,
dass es für sie nicht mehr aufwärts geht und sie endlos und unerhört auf einen Heilsbringer
warten müssen, der sie aus ihrer misslichen Lage befreit.
Dieser Text erschien am 11. Dezember 2019 in der NRZ
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