Mittwoch, 11. Dezember 2019

Gefühlte Wirklichkeit

Ausgerechnet ein Termin bei ihrer Hals-Nasen-Ohren-Ärztin sorgte jetzt dafür, dass Mutter Hören und Sehen verging. Denn ein defekter Aufzug im Ärztehaus bremste sie mit ihrem Rollator aus und ließ sie ihre Ärztin erst gar nicht zu Gesicht bekommen. Als ihr beweglicher Begleiter erfuhr ich in der oben gelegenen HNO-Praxis, dass die Ärztin bereits vom defekten Aufzug gehört habe, und sich „gleich“ im Erdgeschoss bei Mutter blicken lassen wolle. Aus dem Gleich wurde eine ganze Weile, in der Mutters Geduld und Kondition auf die Folter gespannt wurde, ehe ihre Ärztin in ihre Niederung hinabstieg, um in ihren Ohren nach dem Rechten zu sehen. Während die vielbeschäftigte Ärztin das Gefühl hatte, sich überschlagen zu haben, um schnellstmöglich ihre wie bestellt und nicht abgeholt zwischen Tür und Angel wartende Patientin n die Niederungen ihrer im Hausflur wartenden Patientin zu behandeln, hatte diese ihrerseits das Gefühl eine halbe Ewigkeit auf ihre Ärztin gewartet zu haben. Die Szene im Ärztehaus erschien mir wie ein Sinnbild unserer Gesellschaft, in der wir alle eine Hausgemeinschaft bilden, aber manchmal in zwei unterschiedlichen Zeitzonen und Welten leben. Während in den oberen Etagen mit dem Gefühl, dass die Zeit wegläuft, fieberhaft an Problemen herumgedoktert und nach Erfolgsrezepten gesucht wird, haben die Mühlseligen und Beladenen im Erdgeschoss das Gefühl, dass es für sie nicht mehr aufwärts geht und sie endlos und unerhört auf einen Heilsbringer warten müssen, der sie aus ihrer misslichen Lage befreit. 

Dieser Text erschien am 11. Dezember 2019 in der NRZ

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