Die Geschichte geht weiter, auch im Stadtarchiv. Dort wird
das Gedächtnis Mülheims fortgeschrieben, zum Beispiel mit den Nachlässen von
Menschen, die unsere Stadt mitgestaltet und geprägt haben. Der ehemalige Bürgermeister
und Landtagsabgeordnete Günter Weber (SPD) ist einer von ihnen. Kurz nach
seinem 84. Geburtstag hat Weber seinen Nachlass dem kommissarischen Leiter des Stadtarchivs,
Jens Roepstorff, übergeben und dabei ein Gespräch mit dieser Zeitung geführt.
Was findet sich in Ihrem Nachlass und warum haben Sie ihn
jetzt dem Stadtarchiv übergeben?
Weber: Mein Nachlass, der ein Vorlass ist, weil ich ihn noch
zu Lebzeiten dem Stadtarchiv übergebe, umfasst zum Beispiel Fotos, Briefe und
Zeitungsartikel, aber auch eine Zeitschrift der Dümptener SPD, die wir zwischen
1977 und 1985 herausgegeben haben. Die Dokumente, die sechs Archivkartons und
35 Aktenordner füllen, dokumentieren meine politische Arbeit. Mit ihnen kann
meine Familie nichts anfangen, aber ich möchte sie für die Nachwelt erhalten,
weil sie für den Papierkorb zu schade wären.
Welche Erinnerungen haben Sie an den 2. Weltkrieg, bei
dessen Ende sie neun Jahr alt waren?
Weber: Mein Vater war Bergmann auf der Zeche Wiesche und wir
wohnten in der Mausegattsiedlung. Bei einem Luftangriff wurden wir im Keller
unseres Hauses verschüttet und mussten von Nachbar freigeschaufelt werden. Die
kleine Tochter unserer Nachbarin ist damals im Bunker gestorben. Ich höre noch
heute die Schreie der verzweifelten Mutter, die überlebt hatte. 1943 kam ich in
die Kinderlandverschickung nach Württemberg.
Wie kamen Sie in die Politik?
Weber: Wie mein Großvater und mein Vater wurde ich Sozialdemokrat.
Damals war ich 21 und hatte nach meinem Volksschulabschluss bei Siemens eine
Maschinenschlosserlehre absolviert. Die SPD war die Partei der einfachen Leute.
Sie war unsere Partei, die sich für die Arbeiter einsetzte, die damals noch eine
6-Tage- und 48-Stunden-Woche und nur 14 Tage Jahresurlaub hatten. Dass es die
SPD war, die viele soziale und wirtschaftliche Verbesserungen für die Arbeiter erreicht
hat und dafür sorgte, dass auch Arbeiterkinder studieren konnten, haben viele
Menschen heute vergessen.
Was hat Sie politisch geprägt?
Weber: Ich hätte gerne das Gymnasium besucht und studiert.
Doch mein Vater war der Meinung, dass das für mich als Arbeiterkind nicht
infrage käme, zumal man damals für den Besuch der höheren Schule Schulgeld
bezahlen musste. Bei den Falken, der sozialdemokratischen Jugendbewegung, im
Ring der politischen Jugend und im Bürgerkundeunterricht
der Berufsschule an der Kluse habe ich viel gelernt. Bei einem Politik-Wettbewerb
im Handelshof habe ich dann 1958 den Besuch der Weltausstellung in Brüssel
gewonnen. Das war ein großartiges Erlebnis. Aber auch meine Besuche in Auschwitz,
Lidice und Theresienstadt haben mich nachhaltig beeinflusst. Außerdem habe ich
mit meiner Frau Christel von 1959 bis 1975 ehrenamtlich ein Jugendheim an der
Nordstraße geleitet. Da habe ich gelernt, zu organisieren und für Menschen da zu
sein und für ihre Belange einzutreten.
Wo und wie konnten Sie politische Akzente setzen?
Weber: Als junger Stadtverordneter konnte ich in den 1960er
Jahren mit dafür sorgen, dass das bis dahin private Horbachtal zu einer
öffentlichen Grünfläche wurde. Da war ich stolz wie Oskar. Gerne habe ich auch
1970 im Gründungskomitee der Gustav-Heinemann-Schule mitgearbeitet und Mülheims
erster Gesamtschule auf den Weg gebracht. Später habe ich als
Landtagsabgeordneter beim damaligen NRW-Verkehrsminister Franz-Josef Kniola
Gelder für den Bau der Umgehung der Mellinghofer Straße locker machen können. Gerne
erinnere ich mich auch an die damalige Eröffnung der Bürgerbegegnungsstätte im
Alten Bürgermeisteramt an der Mellinghofer Straße und daran, dass wir 1997 als Dümptener
SPD beim Bundesparteitag in Hannover den Wilhelm-Dröscher-Preis als aktivster
Ortsverein der SPD gewonnen haben. Auch der Stadtbahnbau, den ich politisch
maßgeblich begleiten durfte, war eine gute und richtige Entscheidung.
Was raten Sie aus Ihrer Lebenserfahrung heraus den heute
politisch Aktiven und vor allem ihrer Partei, SPD, die sich in einer existenziellen
Krise befindet?
Weber: Die SPD gibt es jetzt seit 155 Jahren. Doch ihr jetziger
Zustand, den ich noch vor 10 Jahren nicht für möglich gehalten hätte, macht mir
existenzielle Sorgen. Mit unserer Gesellschaft hat sich auch unsere Parteienlandschaft
verändert. Die Aufhebung der Fünf-Prozent-Hürde für Stadträte war ein Fehler.
Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 sehe ich skeptisch. Mit Blick auf die Heinrich-Thöne-Volkshochschule
sollte man die Interessen unterschiedlicher Gruppen nicht gegeneinander
ausspielen. Ich wünsche mir mehr guten Willen, aber auch mehr positives
Bauchgefühl und Intuition für das, was unsere Stadt und ihre Bürger brauchen. Die
Lage der Städte im Ruhrgebiet ist bescheiden. Da muss der Bund helfen. Denn das
Ruhrgebiet hat den Wiederaufbau Deutschlands nach 1945 erst möglich gemacht. Politik
wird von den Bürgern in den Städten erlebt. Hier entscheidet sich die Frage des
sozialen Friedens und damit der Stabilität unserer Demokratie.
Zur Person:
Der Sozialdemokrat Günter Weber gehörte dem Rat der Stadt
von 1964 bis 1990 an. Dort leitete er unter anderem den Ausschuss für die
Betriebe der Stadt. Zwischen 1980 und 1990 war er als Bürgermeister Stellvertreter
der damaligen Oberbürgermeisterin Eleonore Güllenstern. Von 1990 bis 2000
gehörte er dem nordrhein-westfälischen Landtag und dessen Verkehrsausschuss an.
Damals war er einer von zwei Facharbeitern im Landtag. Sein damaliger Mülheimer
CDU-Kollege Franz Püll war der einzige Handwerker im Parlament. Zwischen 1990
und 2000 stand Weber zusammen mit Erich Kröhan an der Spitze der damals 1200
Mitglieder zählenden SPD in Dümpten. Stadtweit hatte die heute knapp 2000
Mitglieder zählende Partei damals rund 5000 Mitglieder.
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