Sie war eine Mülheimerin, die auf vier Rädern Geschichte
geschrieben hat. Der Historiker Horst A. Wessel, vormals Leiter des
Mannesmann-Archivs, nahm seine Zuhörer im Haus der Stadtgeschichte jetzt mit
auf eine Zeitreise, in der er die Lebensreise der Mülheimer Industriellentochter
Clärenore Stinnes erzählte. Sie fuhr in 25 Monaten mit ihrem Auto um die Welt.
Den Vortrag, den Wessel zum Auftakt der Reihe zur Mülheimer
Geschichte hielt, war, wie es der Gastgeber und kommissarische Leiter des
Stadtarchivs, Jens Roepstorff, zurecht formulierte: „ein tolles Kopfkino“ und
ein „guter Nachschlag zum Weltfrauentag am 8. März.“ Wessel machte deutlich,
dass die am 21. Januar 1901 als Tochter des Industriellen Hugo Stinnes in
Mülheim geborene Clärenore Stinnes finanziell privilegiert war und dennoch als
Frau ihrer Zeit an Grenzen stieß, die sie als erfolgreiche Rennfahrerin und Weltreisende
in ihrem Adler Standard 6 zu überfahren
suchte. Wessel erinnerte daran, dass Frauen, trotz ihrer verfassungsrechtlichen
Gleichstellung in Deutschland noch bis 1976 auf die Zustimmung ihres Ehemanns
angewiesen waren, wenn sie einen Arbeitsvertrag unterschreiben oder ein Bankkonto
eröffnen wollten.
Obwohl Clärenore Stinnes nach einem guten Abitur an der Luisenschule
ihrem als Sekretärin und Vertraute in der Geschäftsführung seines aus 1900
Firmen mit 600.000 Beschäftigten bestehenden Weltkonzerns mit Freude und Erfolg
zuarbeitete, und fließend Englisch, Französisch und Spanisch sprach, ließen
ihre Mutter und ihre Brüder nach dem Tod des Vaters im Jahr 1924 ihren Einstieg
in die Firmenleitung nicht zu. Diese Zurückweisung motivierte die begeisterte
Automobilistin, die schon als Mädchen gerne mit Autos und Motorteilen spielte
und bereits mit 18 Jahren ihren Führerschein machte, ihrer Familie und der
Gesellschaft ihrer Generation, am Lenkrad und auf vier Rädern zu beweisen, was
in ihr steckte. In den drei Jahren vor ihrer Weltumfahrung, die sie am 25. Mai
1927 in Frankfurt am Main startete, gewann Clärenore Stinnes 17 nationale und internationale
Autorennen. Deshalb bezeichnete sie die Mülheimer Zeitung in einem Bericht als „unsere
Amazone auf Gummi“.
Nach ihrem Sieg bei der Russland-Rallye (1925), so Wessel,
habe sie den Plan einer Autoreise um die Welt gefasst. „Doch ihre Familie
wollte ihr das Geld dafür nicht geben. Deshalb wandte sich Clärenore Stinnes an
die Adler-Auto-Werke, an Bosch, Varta und Continental und gewann die
Autohersteller und ihre Zulieferer als Sponsoren für ihr werbeträchtiges
Abenteuer, das sie 49.000 Kilometer weit durch 32 Länder Europas, Asiens sowie
Nord- und Südamerikas führen sollte“, erzählte Wessel. Und er berichtete auch,
wie Clärenore Stinnes den schwedischen Fotografen und Filmemacher Axel Söderström
als Reisebegleiter gewann. Obwohl er nur für die presse- und filmtechnische Dokumentation
und Verwertung der Autoweltreise engagiert worden war, bewährte er sich während
des zum Teil lebensgefährlichen automobilen Marathons auch als Mechaniker an
der Seite von Clärenore Stinnes, die er nach seiner Scheidung im Dezember 1930 heiraten
sollte.
Wessel würzte seinen kurzweiligen Vortrag mit Anekdoten wie
der über die räuberischen Reiter in der Mongolei, die Clärenore Stinnes, mit ihrem
Gewehr und 128 Schuss Munition auf Distanz hielt, während ihr Gefährte die
Federung ihres Wagens reparierte. Clärenore Stinnes, die ihren Adler 6 Standard
auch über das krachende Eis des zugefrorenen Baikalsees steuerte, wurde während
ihrer abenteuerlichen und schlagzeilenträchtigen Auto-Weltreise auch von
Stalin, Kemal Atatürk und US-Präsident Herbert Hoover empfangen. Ihre drei
Ballkleider, die ebenso wie drei Pistolen, zu ihrem Reisegepäck gehörten,
konnte Clärenore Stinnes bei den Bällen nutzen, die der damalige Bürgermeister
von New York für sie gab.
Wer Clärenore Stinnes auf einem von Wessel gezeigten Foto,
neben ihrem Hund Lord, am Steuer ihres Wagens sieht, versteht, was ein von
Wessel zitierter Journalist ihrer Zeit meinte, als er über die Mülheimerin
schrieb: „Wer ihr in die Augen schaut, der sieht sofort, dass sie keinen Widerspruch
duldet und erreicht, was sie sich vorgenommen hat!“ Alles ist natürlich relativ.
Denn eine Ironie der Geschichte ist die, dass die Frau, die auf spektakuläre
Weise die Welt umfuhr, auf ihrem Abiturzeugnis ausgerechnet in Erdkunde eine
Fünf stehen hatte.
Hintergrund:
Die Auto-Weltreise der Clärenore Stinnes und ihres späteren
Ehemanns Axel Söderström wurden in einem Foto-Tagebuch, das im Stadtarchiv an
der Von-Graefe-Straße 37 einsehbar ist, und in einem Kinofilm 1931 dokumentiert.
Filmdokumentationen rund um die Weltumfahrung der Clärenore Stinnes finden sich
auch im Internet-Videokanal Youtube. Lesenswert ist auch der 2001 von Michael
Winter bei Hoffmann und Campe erschiene biografische Roman: „Pferdestärken –
Die Lebensliebe der Clärenore Stinnes. Clärenore Stinnes lebte mit ihrem
Ehemann und den drei gemeinsamen Kindern auf einem Gut ihres Vaters in Süd-Schweden.
Dennoch besuchten beide regelmäßig Mülheim, wo Clärenores Mutter Cläre bis 1973
im Haus Rott lebte. Auch zu ihrem 80. Geburtstag kam Clärenore Stinnes 1981
nach Mülheim und sagte damals, auf dem Höhepunkt, des Rüstungswettlaufes der
Supermächte: „Ich würde noch einmal um die Welt fahren, wenn ich damit Amerikaner
und Sowjets an einen Tisch bringen und zum Frieden bewegen könnte. Am 7.
September 1990 ist Clärenore Stinnes in ihrer schwedischen Wahlheimat
gestorben.
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