Mittwoch, 18. März 2020

Was uns Frau Stinnes zu sagen hat

Sie war eine Mülheimerin, die auf vier Rädern Geschichte geschrieben hat. Der Historiker Horst A. Wessel, vormals Leiter des Mannesmann-Archivs, nahm seine Zuhörer im Haus der Stadtgeschichte jetzt mit auf eine Zeitreise, in der er die Lebensreise der Mülheimer Industriellentochter Clärenore Stinnes erzählte. Sie fuhr in 25 Monaten mit ihrem Auto um die Welt.


Den Vortrag, den Wessel zum Auftakt der Reihe zur Mülheimer Geschichte hielt, war, wie es der Gastgeber und kommissarische Leiter des Stadtarchivs, Jens Roepstorff, zurecht formulierte: „ein tolles Kopfkino“ und ein „guter Nachschlag zum Weltfrauentag am 8. März.“ Wessel machte deutlich, dass die am 21. Januar 1901 als Tochter des Industriellen Hugo Stinnes in Mülheim geborene Clärenore Stinnes finanziell privilegiert war und dennoch als Frau ihrer Zeit an Grenzen stieß, die sie als erfolgreiche Rennfahrerin und Weltreisende in ihrem Adler  Standard 6 zu überfahren suchte. Wessel erinnerte daran, dass Frauen, trotz ihrer verfassungsrechtlichen Gleichstellung in Deutschland noch bis 1976 auf die Zustimmung ihres Ehemanns angewiesen waren, wenn sie einen Arbeitsvertrag unterschreiben oder ein Bankkonto eröffnen wollten.

Obwohl Clärenore Stinnes nach einem guten Abitur an der Luisenschule ihrem als Sekretärin und Vertraute in der Geschäftsführung seines aus 1900 Firmen mit 600.000 Beschäftigten bestehenden Weltkonzerns mit Freude und Erfolg zuarbeitete, und fließend Englisch, Französisch und Spanisch sprach, ließen ihre Mutter und ihre Brüder nach dem Tod des Vaters im Jahr 1924 ihren Einstieg in die Firmenleitung nicht zu. Diese Zurückweisung motivierte die begeisterte Automobilistin, die schon als Mädchen gerne mit Autos und Motorteilen spielte und bereits mit 18 Jahren ihren Führerschein machte, ihrer Familie und der Gesellschaft ihrer Generation, am Lenkrad und auf vier Rädern zu beweisen, was in ihr steckte. In den drei Jahren vor ihrer Weltumfahrung, die sie am 25. Mai 1927 in Frankfurt am Main startete, gewann Clärenore Stinnes 17 nationale und internationale Autorennen. Deshalb bezeichnete sie die Mülheimer Zeitung in einem Bericht als „unsere Amazone auf Gummi“.


Nach ihrem Sieg bei der Russland-Rallye (1925), so Wessel, habe sie den Plan einer Autoreise um die Welt gefasst. „Doch ihre Familie wollte ihr das Geld dafür nicht geben. Deshalb wandte sich Clärenore Stinnes an die Adler-Auto-Werke, an Bosch, Varta und Continental und gewann die Autohersteller und ihre Zulieferer als Sponsoren für ihr werbeträchtiges Abenteuer, das sie 49.000 Kilometer weit durch 32 Länder Europas, Asiens sowie Nord- und Südamerikas führen sollte“, erzählte Wessel. Und er berichtete auch, wie Clärenore Stinnes den schwedischen Fotografen und Filmemacher Axel Söderström als Reisebegleiter gewann. Obwohl er nur für die presse- und filmtechnische Dokumentation und Verwertung der Autoweltreise engagiert worden war, bewährte er sich während des zum Teil lebensgefährlichen automobilen Marathons auch als Mechaniker an der Seite von Clärenore Stinnes, die er nach seiner Scheidung im Dezember 1930 heiraten sollte.

Wessel würzte seinen kurzweiligen Vortrag mit Anekdoten wie der über die räuberischen Reiter in der Mongolei, die Clärenore Stinnes, mit ihrem Gewehr und 128 Schuss Munition auf Distanz hielt, während ihr Gefährte die Federung ihres Wagens reparierte. Clärenore Stinnes, die ihren Adler 6 Standard auch über das krachende Eis des zugefrorenen Baikalsees steuerte, wurde während ihrer abenteuerlichen und schlagzeilenträchtigen Auto-Weltreise auch von Stalin, Kemal Atatürk und US-Präsident Herbert Hoover empfangen. Ihre drei Ballkleider, die ebenso wie drei Pistolen, zu ihrem Reisegepäck gehörten, konnte Clärenore Stinnes bei den Bällen nutzen, die der damalige Bürgermeister von New York für sie gab.

Wer Clärenore Stinnes auf einem von Wessel gezeigten Foto, neben ihrem Hund Lord, am Steuer ihres Wagens sieht, versteht, was ein von Wessel zitierter Journalist ihrer Zeit meinte, als er über die Mülheimerin schrieb: „Wer ihr in die Augen schaut, der sieht sofort, dass sie keinen Widerspruch duldet und erreicht, was sie sich vorgenommen hat!“ Alles ist natürlich relativ. Denn eine Ironie der Geschichte ist die, dass die Frau, die auf spektakuläre Weise die Welt umfuhr, auf ihrem Abiturzeugnis ausgerechnet in Erdkunde eine Fünf stehen hatte. 


Hintergrund:


Die Auto-Weltreise der Clärenore Stinnes und ihres späteren Ehemanns Axel Söderström wurden in einem Foto-Tagebuch, das im Stadtarchiv an der Von-Graefe-Straße 37 einsehbar ist, und in einem Kinofilm 1931 dokumentiert. Filmdokumentationen rund um die Weltumfahrung der Clärenore Stinnes finden sich auch im Internet-Videokanal Youtube. Lesenswert ist auch der 2001 von Michael Winter bei Hoffmann und Campe erschiene biografische Roman: „Pferdestärken – Die Lebensliebe der Clärenore Stinnes. Clärenore Stinnes lebte mit ihrem Ehemann und den drei gemeinsamen Kindern auf einem Gut ihres Vaters in Süd-Schweden. Dennoch besuchten beide regelmäßig Mülheim, wo Clärenores Mutter Cläre bis 1973 im Haus Rott lebte. Auch zu ihrem 80. Geburtstag kam Clärenore Stinnes 1981 nach Mülheim und sagte damals, auf dem Höhepunkt, des Rüstungswettlaufes der Supermächte: „Ich würde noch einmal um die Welt fahren, wenn ich damit Amerikaner und Sowjets an einen Tisch bringen und zum Frieden bewegen könnte. Am 7. September 1990 ist Clärenore Stinnes in ihrer schwedischen Wahlheimat gestorben.


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