Sonntag, 22. März 2020

Harte Schule

Noch vor nicht allzu langer Zeit hetzte ich zur Haltestelle, um dort die abfahrbereite Straßenbahn zu erreichen. Ich drückte alle Knöpfe und klopfte gegen das Bahnfenster. Doch keine Tür tat sich mir auf. Ich wollte schon in Wut über die vermeintliche Ignoranz des Straßenbahnfahrers geraten. Doch dann sah ich beim Blick auf den Zielanzeiger der Tram, dass ich selbst ignoriert hatte, was dort stand: „Fahrschule“.


Als ich jetzt an einem der letzten Sonnentage auf dem Weg zur Haltestelle eine Straßenbahn ankommen sah, ließ ich es ruhiger angehen. Nur keine falsche Eile. Dicht an dicht in der Bahn stehen oder sitzen ist in Corona-Zeiten keine verlockende Aussicht. Ich nahm mir also die Zeit, schön langsam noch etwas durch die frische Luft zu gehen und den Sonnenschein zu genießen. Ich dachte: „Was soll’s? Zu Fuß erreiche ich mein Ziel vielleicht etwas später, aber dafür entspannter und angenehmer, Sicherheitsabstand inklusive.

So bringt einen die Fahr-Schule und der Fahrplan der Krise auf eine neue Spur. Sie bringen uns ab von der ansonsten bevorzugten Überholspur und zwingen uns zur Entschleunigung oder gar zum Stillstand. Brauchen wir Menschen auf unserer Lebensreise eigentlich immer eine Krise, um etwas dazuzulernen, was uns am Ende vielleicht weiter und zu neuen Zielen bringt? Wie dem auch sei. Ich freue mich schon jetzt auf den Tag, an dem ich wieder bedenkenlos in eine überfüllte Straßenbahn einsteigen kann und dann ist es mir garantiert auch ganz egal, ob sie mich pünktlich oder verspätet an mein Ziel bringen wird.

Dieser Text erschien am 21.03.2020 in der Neuen Ruhrzeitung

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