Freitag, 6. September 2019

Barrierefreiheit als Qaulitätsmerkmal

Wie kann man alten, kranken und behinderten Menschen eine gerechte und würdige Teilhabe am Leben verschaffen? Diese Frage trieb Pastor Theodor Fliedner vor 175 Jahren dazu an, die Pastoralgehülfen- und Diakonenanstalt ins Leben zu rufen. Deshalb lud die aus ihr hervorgegangene Theodor-Fliedner-Stiftung jetzt zu einem Symposium, das in der Stadthalle der Frage nachging: „Was bringt die Zukunft für Menschen mit Hilfebedarf?“ Den aktuellen Hintergrund der Fachvorträge und der von der Journalistin Steffi Neu moderierten Podiumsdiskussion bildet das Bundesteilhabegesetz, dessen dritte Stufe am 1. Januar 2020 in Kraft tritt. Es soll die Eingliederungshilfe effizienter machen, wird aber auch als verkapptes Spargesetz kritisiert, das für die betroffenen Hilfsempfänger und ihre gesetzlichen Betreuer einen erheblichen bürokratischen Mehraufwand mit sich bringt.

Der Vorsitzende der Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung, Prof. Dr. Michael Seidel, warnte davor, unter dem Vorwand der Selbstbestimmung damit zu rechnen, Betreuungs- und Assistenzkosten einsparen zu können. „Das wäre lieblos“, sagte Seidel und machte am Beispiel des Krankenhausaufenthalts deutlich, dass hier eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung nur mit gezielter Assistenz für die Betroffenen zu realisieren sei. Seidel betonte: „Hier geht es nicht um einen Nachteilsausgleich, sondern um Gerechtigkeit und die Verwirklichung eines Rechtsanspruchs. Und wenn etwa eine Klinik auf diese Weise sensibler mit geistig behinderten Patienten umgeht, werden davon am Ende alle Patienten, Ärzte und Pflegekräfte profitieren.“

Gerechte Teilhabe im Sinne einer nachhaltigen Politik, die den Kollaps des Pflegesystems verhindere, bestehe auch in gezielten Entlastungs- und Assistenzleistungen. Darauf wies die Gründerin und Leiterin der Berliner Beratungs- und Beschwerdestelle Pflege in Not, Gabriele Tammen-Parr hin. „73 Prozent aller 3,4 Millionen Pflegebedürftigen werden zuhause von Angehörigen gepflegt. Und 83 Prozent aller pflegenden Angehörigen beschreiben sich als schwer belastet. Aber nur 4 Prozent entscheiden sich deshalb, ihre Angehörigen in ein Pflegeheim zu geben“, führte Tammen-Parr die gesellschaftliche Dimension des Problems deutlich. Deshalb unterstützen sie und ihr Team gezielt pflegende Angehörige und Pflegebedürftig, wenn die Überforderung in der häuslichen Pflege zu verbaler und körperlicher Gewalt führt.

„Inklusion und Demokratie sind zwei Seiten derselben Medaille. Es reicht nicht, wenn der deutsche Staat auf der Basis der UN-Behindertenrechtskonvention Recht setzt. Er muss diesen Rechtsanspruch auch in allen Lebensbereichen durchsetzen, wenn sich Menschen mit Behinderung vom Sozialstaat nicht verlassen fühlen sollen“, sagte der selbst stark sehbehinderte Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel. Entscheidend ist für Dusel, dass Menschen mit Behinderung auch über ihre Rechte Bescheid wissen und, etwa über das Internet, einen barrierefreien Zugang zu den entsprechenden Informationen haben. Dies, so Dusel, sei leider auch bei Dokumenten des Deutschen Bundestages leider noch immer nicht flächendeckend der Fall.
Während der für Soziales zuständige Abteilungsleiter im NRW-Sozialministerium für Soziales zuständige Abteilungsleiter, Udo Diel, das Bundesteilhabegesetz und seine Landesrahmenvereinbarung zwischen den Vertretern der Leistungserbringer, der Kostenträger und der Leistungsempfänger verteidigte und deutlich machte, „dass jede Gesetzgebung immer nur so gut sein kann wie die Betroffenen, die sich in diesen Entscheidungsprozess einbringen“, wies Theodor-Fliedner-Stiftungsfachvorstand Claudia Ott darauf hin, „dass das sehr komplexe Sozialrecht niederschwelliger gestaltet werden muss, wenn die Betroffenen und ihre gesetzlichen Vertreter nicht überfordert werden sollen und wir damit riskieren, dass etwas auf die schiefe Bahn gerät und eine Unterversorgung entsteht.“ 

Für den theologischen Diakonievorstand Pfarrer Christian Heine-Göttelmann geht es bei der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung um nicht mehr und nicht weniger „als um die Verwirklichung der Menschlichkeit und der nicht nur durch das Grundgesetz zugesagten Menschenwürde.“ Für ihn zeigen die Bestimmungen des Bundesteilhabegesetzes aber auch, „das gut gemeint nicht immer auch gut gemacht ist und manchmal auch das Gegenteil dessen bewirkt, was politisch eigentlich gewollt war.“ Der Vorstandsvorsitzende der Theodor-Fliedner-Stiftung, Carsten Bräumer, resümierte seine wichtigste Erkenntnis aus den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen mit der Feststellung: „Inklusion ist ein Prozess, der uns alle betrifft und voranbringt, nicht nur die Menschen mit einem besonderen Hilfebedarf.“




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