Wie
kann man alten, kranken und behinderten Menschen eine gerechte und würdige
Teilhabe am Leben verschaffen? Diese Frage trieb Pastor Theodor Fliedner vor
175 Jahren dazu an, die Pastoralgehülfen-
und Diakonenanstalt ins Leben zu rufen. Deshalb lud die aus ihr hervorgegangene
Theodor-Fliedner-Stiftung jetzt zu einem Symposium, das in der Stadthalle der
Frage nachging: „Was bringt die Zukunft für Menschen mit Hilfebedarf?“ Den
aktuellen Hintergrund der Fachvorträge und der von der Journalistin Steffi Neu
moderierten Podiumsdiskussion bildet das Bundesteilhabegesetz, dessen dritte
Stufe am 1. Januar 2020 in Kraft tritt. Es soll die Eingliederungshilfe effizienter
machen, wird aber auch als verkapptes Spargesetz kritisiert, das für die
betroffenen Hilfsempfänger und ihre gesetzlichen Betreuer einen erheblichen
bürokratischen Mehraufwand mit sich bringt.
Der Vorsitzende der Gesellschaft für
seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung, Prof. Dr. Michael
Seidel, warnte davor, unter dem Vorwand der Selbstbestimmung damit zu rechnen,
Betreuungs- und Assistenzkosten einsparen zu können. „Das wäre lieblos“, sagte
Seidel und machte am Beispiel des Krankenhausaufenthalts deutlich, dass hier eine
gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung nur mit
gezielter Assistenz für die Betroffenen zu realisieren sei. Seidel betonte: „Hier
geht es nicht um einen Nachteilsausgleich, sondern um Gerechtigkeit und die
Verwirklichung eines Rechtsanspruchs. Und wenn etwa eine Klinik auf diese Weise
sensibler mit geistig behinderten Patienten umgeht, werden davon am Ende alle
Patienten, Ärzte und Pflegekräfte profitieren.“
Gerechte Teilhabe im Sinne einer
nachhaltigen Politik, die den Kollaps des Pflegesystems verhindere, bestehe
auch in gezielten Entlastungs- und Assistenzleistungen. Darauf wies die
Gründerin und Leiterin der Berliner Beratungs- und Beschwerdestelle Pflege in
Not, Gabriele Tammen-Parr hin. „73 Prozent aller 3,4 Millionen
Pflegebedürftigen werden zuhause von Angehörigen gepflegt. Und 83 Prozent aller
pflegenden Angehörigen beschreiben sich als schwer belastet. Aber nur 4 Prozent
entscheiden sich deshalb, ihre Angehörigen in ein Pflegeheim zu geben“, führte
Tammen-Parr die gesellschaftliche Dimension des Problems deutlich. Deshalb
unterstützen sie und ihr Team gezielt pflegende Angehörige und Pflegebedürftig,
wenn die Überforderung in der häuslichen Pflege zu verbaler und körperlicher
Gewalt führt.
„Inklusion und Demokratie sind zwei
Seiten derselben Medaille. Es reicht nicht, wenn der deutsche Staat auf der
Basis der UN-Behindertenrechtskonvention Recht setzt. Er muss diesen
Rechtsanspruch auch in allen Lebensbereichen durchsetzen, wenn sich Menschen
mit Behinderung vom Sozialstaat nicht verlassen fühlen sollen“, sagte der
selbst stark sehbehinderte Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen
Dusel. Entscheidend ist für Dusel, dass Menschen mit Behinderung auch über ihre
Rechte Bescheid wissen und, etwa über das Internet, einen barrierefreien Zugang
zu den entsprechenden Informationen haben. Dies, so Dusel, sei leider auch bei
Dokumenten des Deutschen Bundestages leider noch immer nicht flächendeckend der
Fall.
Während der für Soziales zuständige
Abteilungsleiter im NRW-Sozialministerium für Soziales zuständige
Abteilungsleiter, Udo Diel, das Bundesteilhabegesetz und seine Landesrahmenvereinbarung
zwischen den Vertretern der Leistungserbringer, der Kostenträger und der
Leistungsempfänger verteidigte und deutlich machte, „dass jede Gesetzgebung
immer nur so gut sein kann wie die Betroffenen, die sich in diesen
Entscheidungsprozess einbringen“, wies Theodor-Fliedner- Stiftungsfachvorstand
Claudia Ott darauf hin, „dass das sehr komplexe Sozialrecht niederschwelliger
gestaltet werden muss, wenn die Betroffenen und ihre gesetzlichen Vertreter
nicht überfordert werden sollen und wir damit riskieren, dass
etwas auf die schiefe Bahn gerät und eine Unterversorgung entsteht.“
Für den theologischen Diakonievorstand
Pfarrer Christian Heine-Göttelmann geht es bei der gleichberechtigten Teilhabe von
Menschen mit Behinderung um nicht mehr und nicht weniger „als um die
Verwirklichung der Menschlichkeit und der nicht nur durch das Grundgesetz
zugesagten Menschenwürde.“ Für ihn zeigen die Bestimmungen des
Bundesteilhabegesetzes aber auch, „das gut gemeint nicht immer auch gut gemacht
ist und manchmal auch das Gegenteil dessen bewirkt, was politisch eigentlich
gewollt war.“ Der Vorstandsvorsitzende der Theodor-Fliedner-Stiftung, Carsten
Bräumer, resümierte seine wichtigste Erkenntnis aus den Vorträgen und
Diskussionsbeiträgen mit der Feststellung: „Inklusion ist ein Prozess, der uns
alle betrifft und voranbringt, nicht nur die Menschen mit einem besonderen
Hilfebedarf.“
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