1. September 1939: mit dem deutschen Überfall auf Polen beginnt
der 2. Weltkrieg. Er wird Mülheim für immer verändern. Wie erinnert sich der 1924
in Mülheim geborene ehemalige FDP-Stadtrat und Bürgermeister Paul Gerhard Bethge
an den Tag des Kriegsbeginns, an das, was ihm vorausging und an das, was ihm
folgen sollte. Ein Zeitzeugengespräch.
Frage: Wie erinnern sie sich anders Mülheim vor dem 2. Weltkrieg?
Antwort: Mein Elternhaus stand am Muhrenkamp. Mein Vater war
ein ehemaliger Berufssoldat, der später in der Finanzverwaltung arbeitete. Er
war kein Freund der Weimarer Republik, sondern ein Anhänger des Kaisers, der
1918 abgedankt hatte. Deshalb wählte er die Deutschnationale Volkspartei. Meine
protestantische und sozial engagierte Mutter war Anhängerin der NSDAP und Adolf
Hitlers. Sie sah in Hitler den Mann, der die negativen Folgen, die der Versailler
Friedensvertrag von 1919 in Form von Reparationen, Besatzung und
Gebietsverlusten für Deutschland hatte, überwinden würde.
Frage: Wie haben Sie das damals selbst erlebt und gesehen?
Ich habe in der Schule gelernt, dass der Versailler
Friedensvertrag ein Diktat und eine Schande sei. In diesem Bewusstsein wuchs ich
auf. Deshalb musste ich auch nicht von meiner Mutter überzeugt werden 1933
Mitglied im Jungvolk und später in der Hitler-Jugend zu werden. Ich erinnere
mich an den Fackelzug über die Schloßstraße, mit dem die SA am 30. Januar 1933
die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler feierte. Auf dem Kaiserplatz hielten bis
1933 der sozialdemokratische Reichsbanner, der deutschnationale Stahlhelm, der
kommunistische Rotfrontkämpferbund und die nationalsozialistische SA ihre
Versammlungen ab. Hier lieferte n sie sich Straßenkämpfe, die von der berittenen
Polizei aufgelöst wurden.
Frage: Wie hat sich die Stadt unter dem Hakenkreuz
verändert?
Während der NS-Zeit wurde aus dem Kaiserplatz der Platz der
SA und aus der Friedrichstraße die Adolf-Hitler-Straße. Und die heutige
Martin-von-Tours-Schule wurde zur Freikorps-Schulz-Schule. Auch mein Vater
hatte sich als Soldat des 1918 aufgelösten Infanterieregiments 159 seinem
ehemaligen Kommandeur Siegfried Schulz angeschlossen, der dieses kaisertreue
Freikorps gebildet hatte. Ab 1933 wurden Hitlers Geburtstag am 20. April und
der Tag des Hitler-Putsches vom 9. November 1923 zu Nationalfeiertagen. An
diesen Tagen wurde die Stadt zu einem Fahnenmeer. Meine Mutter hängte die
Hakenkreuzfahne und mein Vater die kaiserliche Reichsfahne zum hinaus.
Frage: Wie erinnern sie sich an den 1. September 1939?
Antwort: Wir saßen zu Hause vor dem Radio und hörten Adolf
Hitlers Rede vor dem Reichstag, in der er sagte: „Seit 5:45 Uhr wird jetzt
zurückgeschossen!“ Ich habe damals wie viele Jungen meiner Generation gejubelt.
Ich wollte Soldat werden und dafür kämpfen, dass Deutschland die nach dem 1.Weltkrieg
verlorenen Gebiete zurückbekam. Meine Eltern haben nicht gejubelt. Sie wussten,
was Krieg bedeutet und mein Vater sah es nicht gerne, dass ich mich bereits mit
17 Jahren freiwillig zur Wehrmacht und zur Waffen-SS meldete. Aber ich hatte
die nationalsozialistische Ideologie durch die Hitler-Jugend ihre militärischen
Geländespiele und ihrer Heimabende verinnerlicht. Deshalb wollte ich zur Waffen-SS,
weil ich sie als Elitetruppe der Wehrmacht sah.
Frage: Wie haben sie den Krieg erlebt?
Antwort: Ich habe als Wehrmachtssoldat der Waffen-SS-Division
Wiking mit Deutschen, Norwegern, Finnen, Dänen, Niederländern und Belgiern nach
dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 in der motorisierten
Infanterie in der Ukraine und im Kaukasus gekämpft.
Frage: Die Waffen-SS wird mit der Ermordung sowjetischer
Juden, aber auch mit der Ermordung jüdischer KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter in
Verbindung gebracht. Was wussten Sie von diesen Kriegsverbrechen und waren Sie
daran beteiligt?
Antwort: Weder ich selbst
noch Kameraden meiner Einheit waren an Erschießungen und Verschleppungen von
Zwangsarbeitern beteiligt. Ich habe aber später im Lazarett von Verschleppungen
von Zwangsarbeitern gehört. Ich sah mich als Soldat, der für sein Land in einem
gerechten Krieg kämpft. Ich wurde
insgesamt 5 Mal verwundet. Bei meinen Heimatbesuchen 1943 und 1944 sah ich in Mülheim
die grauenvollen Folgen des Luftkrieges. Vom gescheiterten Hitler-Attentat erfuhr
ich am 20. Juli 1944 als Ausbilder in Ellwangen. Die Männer des militärischen Widerstandes
waren für mich damals Hochverräter. Das Kriegsende 1945 erlebte ich in
amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Süddeutschland. Damals sah ich die
ersten Fotos aus den befreiten Konzentrationslagern und hörte von den
US-Soldaten erstmals vom Holocaust. Doch das wollte ich damals nicht glauben.
Frage: Wann begann bei Ihnen das Umdenken?
Antwort: Diese Erkenntnis setzte bei mir erst nach dem Ende
der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ein. Damals konnte ich die Fakten nicht
mehr ignorieren. Ich musste von en Idealen meiner Jugend herunter. Das war für
mich schwer und schmerzhaft. Mich überkam eine tiefe Scham und ich musste
erkennen, dass wir von Hitler und von den Nationalsozialisten missbraucht und
verheizt worden waren.
Frage: Wie sind Sie in der Demokratie angekommen?
Antwort: Ich habe mich in den ersten Nachkriegswahlkämpfen
darüber geärgert, dass die Soldaten der deutschen Wehrmacht von den Kommunisten
und Sozialdemokraten pauschal diffamiert wurden. Deshalb bin ich Anfang der
1950er in die FDP eingetreten, nachdem ich eine Rede des
FDP-Bundestagsabgeordneten Erich Mende gehört hatte, indem er sich gegen eine
pauschale Verurteilung der Soldaten in der Waffen-SS wandte. Später sollte
Mende FDP-Bundesvorsitzender und Vizekanzler werden. Ich selbst habe mich
später in der FDP am NRW-Innenminister Willy Weyer und am späteren
Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff orientiert.
Frage: Wurde Ihnen Ihre Vergangenheit in der Waffen-SS
zur politischen Belastung?
Antwort: Ich hatte Schwierigkeiten nach 1945 beruflich Fuß
zu fassen und fand dann mit Hilfe meines Vaters eine Anstellung in der
Finanzverwaltung. Politisch wurde ich natürlich angefeindet. Aber gerade die
Ratskollegen, die unter den Nazis im Zuchthaus gelitten hatten wie etwa die Sozialdemokraten
Heinrich Lemberg, Otto Striebeck und Kuschka mit denen ich ab 1964 im
Stadtparlament zusammenarbeitete, haben mich nicht verurteilt, sondern mein
Engagement für die Demokratie anerkannt. Auch mit dem sozialdemokratischen Oberbürgermeister
Heinrich Thöne, der 1933 im Stadtrat gegen Hitlers Ehrenbürgerschaft gestimmt
hatte, fand ich nach einem klärenden Gespräch bei meinem Antrittsbesuch im
Rathaus zu einem guten Verhältnis. Ich habe ihm damals gesagt: „Ich will Ihnen
nicht zeigen wie Demokratie funktioniert. Ich will von Ihnen lernen wie
Demokratie funktioniert!“
Frage: Wie sehen Sie die heutige Politik?
Antwort: Das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien macht
mir Sorgen. Die Zersplitterung unserer Parlamente und unseres Parteiensystems weckt
bei mir ungute Erinnerungen an die Weimarer Republik. Die politische Bildung muss
gestärkt und Politik verständlicher erklärt werden.
Die Waffen-SS
Die
ab 1927 von Heinrich Himmler geführte Schutzstaffel (SS) sah sich selbst als
politische und militärische Elite der NSDAP. Himmler baute Waffen-SS ab 1934 als
paramilitärischen Kampfverband auf, um das Waffenmonopol der Wehrmacht zu durchbrechen
und eine im Sinne der NSDAP politisch zuverlässige Truppe innerhalb der Wehrmacht
zu schaffen. 1944 kämpften etwas mehr als 900.000 Soldaten in 38 Divisionen der
Waffen-SS. Bis zum Kriegende fielen 300.000 Soldaten der Waffen-SS. Der
Historiker Arnulf Scriba schreibt 2015 in einem Beitrag für das Deutsche
Historische Museum in Berlinüber die Rolle der Waffen-SS während des Zweiten-Weltkrieges
„Den zum Teil beachtlichen
militärischen Leistungen der Waffen-SS stand eine Vielzahl grausamster
Kriegsverbrechen vor allem in den besetzten sowjetischen Gebieten gegenüber.
Ihre Angehörigen setzten in der ihnen von den Nationalsozialisten zugedachten
Funktion als "politische Soldaten" den angestrebten
Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion mit exzessiver Härte um und
unterstützten das Morden der Einsatzgruppen. Wie in Oradour-sur-Glane im Juni 1944 fiel die
Waffen-SS aber auch auf den westlichen Kriegsschauplätzen durch Massaker an der
Zivilbevölkerung auf. Noch in den letzten Kriegstagen erschossen fanatische
SS-Einsatzkommandos im Deutschen Reich ungezählte Zivilisten und Soldaten, wenn
diese in Verdacht standen, die deutsche Widerstandskraft zu schwächen.“
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