Freitag, 27. September 2019

Politische Geografie

Erinnern Sie sich noch? Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren wurde Mülheim zum „Schilda an der Ruhr“. Wie das? Bis dahin hatte Mülheim ob seiner im italienischen Palazzo-Stil errichteten Stadthalle, als Ruhrvenedig gegolten. Doch nach der ersten OB-Direktwahl im September 1999 fühlten sich nicht nur die grüne Ratsfrau Annette Lostermann-DeNil ins legendäre Schilda versetzt. Sie prägte damals den Begriff „Schilda an der Ruhr“! Denn für einen Tag war der Sozialdemokrat Thomas Schröer Mülheims ersten direkt gewählter Oberbürgermeister, der die Wahl mit 33 Stimmen Vorsprung gewonnen hatte. Dachte er. Doch am Tag nach der Wahl hatte man im Rathaus noch einmal die Stimmen gezählt und den Christdemokraten Jens Baganz mit 64 Stimmen Vorsprung als neuen OB gesehen. Eine weitere Stimmenzählung brachte dann tatsächlich Jens Baganz mit einem Vorsprung von 58 Stimmen ins Amt. Was den Mülheimern 1999 recht war, war den Wahlbehörden im US-Bundesstaat Florida bei der Präsidentschaftswahl 2000 billig. Dort wurden die Wahlstimmen so lange gezählt, bis das oberste Gericht der USA George W. Busch junior in einer umstrittenen Entscheidung zum Wahlsieger im Sonnenstaat und damit in den Staaten insgesamt erklärte.

Im Rückblick auf das prominente Vergleichsbeispiel dafür, wie umstritten und hauchdünn demokratische Wahlentscheidungen zustande kommen können, war Mülheim bald als „Florida an der Ruhr“ in aller Munde.

Mal sehen, was uns nach den nächsten Wahlen in Mülheim blüht, und wessen Rechnung dann wie und zu wessen Gunsten aufgeht. Wie es aussieht wären wir wirtschaftspolitisch als Florida an der Ruhr gut bedient, steht Florida mit seiner Wirtschaftskraft unter den 50 US-Bundestaaten auf Platz 4 und glänzt außerdem mit einer Arbeitslosenquote von unter 4 Prozent. Wenn wir allerdings auf die Verschuldung unserer Stadt schauen, müssen wir uns aber wohl eher als das Griechenland an der Ruhr betrachten. Immerhin haben uns die Griechen ja die Demokratie gebracht und von ihrer Fähigkeit auch unter schwierigen Rahmenbedingungen und in Zeiten des teilweisen Staatsversagens die Lebensfreude nicht zu verlieren, können wir uns auch in Mülheimer eine Scheibe abschneiden. 

Dieser Text erschien am 27. September 2019 in der NRZ

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