Dr. Wilhelm Knabe |
Artikel 1: „Die Würde des
Menschen ist unantastbar.“
Knabe: Das ist ein Ideal, ein
paradiesischer Zustand. Der Respekt vor dem Leben ist der höchste Wert, ohne
den keine menschenwürdige Gesellschaft existieren kann. Ich habe als Soldat der
Wehrmacht und als Sohn eines Pfarrers, der vergeblich versuchte, seelisch
kranke Insassen einer Anstalt vor der Euthanasie zu bewahren und der an diesem
gescheiterten Versuch zerbrochen ist, das Gegenteil von Menschenwürde erlebt.
Artikel 3: „Alle Menschen
sind vor dem Gesetz gleich.“
Knabe: Ich habe erlebt, was
fehlende Rechtsgleichheit bedeutet, als in während der 1960er die USA bereiste,
wo Schwarze in den Südstaaten nur hinten im Bus Platz nehmen durften, während
die besseren Plätze im vorderen Teil des Busses, auf denen man mehr frische
Luft bekam, den Weißen vorbehalten waren. Aber ich mache mir nichts vor. Auch
bei uns hängt es nicht zuletzt von den persönlichen Geldmitteln ab, ob man sein
Recht nicht nur hat, sondern auch bekommt.
Artikel 4: „Die ungestörte
Religionsausübung ist gewährleistet.“
Knabe: Alleine von einem Event zum
nächsten zu springen. Das reicht nicht, um unsere Gesellschaft
zusammenzuhalten. Aber die Religionsgemeinschaften können nur durch ihr eigenes
Vorbild Menschen zu der Überzeugung bringen: Das ist eine gute Sache. Da möchte
ich dabei sein und mitmachen.
Artikel 5: „Jeder hat das
Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu
verbreiten.“
Knabe: Vieles lässt sich nur dann
ändern, wenn viele Menschen darauf bestehen, dass es sich ändert. Deshalb sehe
ich die Fridays-for-Future-Bewegung als den Aufbruch einer ganzen Generation,
die uns alle dazu zwingt mehr an die Zukunft unseres Planeten zu denken und
unser politisches Handeln darauf hin auszurichten.
Artikel 6: „Ehe und Familie
stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“
Knabe: Mit großem Erschrecken sehe
ich, dass viele junge Leute heute keine Familien mehr gründen, weil sie keine
berufliche Sicherheit, sondern nur zeitlich befristete Verträge bekommen. Auch
die ständige Verfügbarkeit, die ihnen von immer mehr Arbeitgebern abverlangt
wird, behindert das Ehe- und Familienleben.
Artikel 13: „Politisch
Verfolgte genießen Asyl.“
Knabe:
Als politischer Flüchtling aus der DDR habe ich 1959 am eigenen Leibe erlebt
wie schwer es ist, wenn man ohne Arbeitsstelle ist und Einheimischen gegen die
Zugezogenen zusammenhalten. Das Asylrecht ist für ein geordnetes Staatswesen
von großem Nutzen, weil es Menschen zur Toleranz erzieht. Der Anspruch auf Asyl
muss individuell und nach bestem Wissen und Gewissen auf der Basis von Fakten
geprüft werden. Starre Regeln helfen nicht. Wenn wir Flüchtlinge in die
unmenschlichen Lager nach Libyen zurückschicken, wird das
auf unsere eigene Gesellschaft abfärben, in dem die Menschen dann immer
skrupelloser miteinander umgehen. Nicht der Fitteste muss in unserer
Gesellschaft gewinnen, sondern der, der solidarisch mit anderen
zusammenarbeitet.
Artikel 21: „Die Parteien
wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“
Knabe: Die Grünen haben den
Umweltschutz zum politischen Thema gemacht und als eine wichtige
gesellschaftliche Aufgabe in die Parlamente und Verwaltungen getragen. Aber
Parteien sind kein Selbstzweck. Sie müssen ihren Kern bewahren. Die Demokratie
lebt von Wahlen und vom regelmäßigen Regierungswechsel, damit keine Partei dazu
verführt wird, ihre Anhänger besser zu bedienen als andere Bürger. Gute
Karrieren zu machen, ist nicht ehrenrührig, wenn diese nicht durch unfaire
Mittel und den Ausschluss bestimmter Menschen befördert werden.
Artikel 24: „Der Bund kann
durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen.“
Knabe: Ich hoffe, dass die Vernunft
auf unserem Kontinent ausreicht, um die Europäische Union zu erhalten statt sie
weiter zu zerstören. Eine große Staatengemeinschaft kann in unserer Welt mehr
erreichen als ein einzelner Staat. Ob Umweltzerstörung oder demografischer
Wandel. Wir haben viele Großbaustellen, die wir gemeinsam angehen müssen.
Egoismus und Nationalismus können langfristig nur zum Zusammenbruch führen. Wir
brauchen Bildung und Solidarität, um das Raumschiff Erde sicher durchs All zu
steuern.
Artikel 38: Die Abgeordneten
des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und
Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Knabe: Als Bundestagsabgeordneter
der Grünen trat ich 1989 und 1990 dafür ein, dass die Einheit Deutschlands ein
erstrebenswertes Ziel sei. Das sahen viele Kollegen in meiner Fraktion damals
anders, weil sie Angst vor einem neuen deutschen Nationalismus hatten. Doch mit
Nationalismus konnte man damals in Deutschland keinen Hund hinter dem Ofen
hervorlocken. Doch das ist inzwischen leider wieder anders.
Zur Person: Dr. Wilhelm Knabe ist Forst
und Umweltwissenschaftler. Der Vater von vier erwachsene Kindern ist verwitwet.
1978 gehörte er zu den Mitbegründern der Grünen in Nordrhein-Westfalen. Von
1979 bis 1984 agierte er als Parteisprecher der Grünen auf Landes- und
Bundesebene. Von 1987 bis 1990 gehörte er dem Deutschen Bundestag und von 1994
bis 1999 dem Rat der Stadt Mülheim an. Neben seinem Ratsmandat bekleidete er
damals das Amt des 2. Bürgermeisters. Heute ist Knabe Ehrenvorsitzender der
Grünen.
Dieser Text erschien am 23. Mai in NRZ und WAZ
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