Der Europa-Wahlgang macht seinem Namen alle Ehre. Der Weg
nach Europa ist für Mutter und mich besonders weit. Normalerweise sind Wahlen
für uns ein Sonntagsspaziergang ins Wahllokal an der nächsten Straßenecke. Doch
diesmal ist alles anders. Der Aufzug in unserem Haus hat ausgerechnet vor der
Europawahl seinen Betrieb eingestellt. Seine Wiederherstellung wird uns erst am
Tag nach der Wahl in Aussicht gestellt. Schlechte Karten für die Generation
Rollator, die vor Jahrzehnten als junger Hüpfer leichtfüßig ins Obergeschoss
eingezogen ist, ohne auch nur einen Gedanken an das harte Brot der späten Jahre
zu verschwenden. So schnell wird man von seinem demokratischen Wahlrecht
abgeschnitten. Ist das nicht ein Fall ein Fall für die Europäische Union? Doch
bis Mutter und ich in Brüssel jemanden erreichen, ist die Wahl gelaufen. Also
halten wir uns an das Wahlbüro im Rathaus. Briefwahl heißt der Ausweg.
Als Kurier meiner Mutter und unserer Wahl-und
Wohngemeinschaft zeigt mir der verlängerte Wahlgang, treppauf und treppab.
Demokratie hält einen auf Trapp halten und ist ein schweißtreibendes Geschäft
sein, vor allem, wenn man daheim auf dem Küchentisch den 93 Zentimeter langen
und mit 40 Wahlvorschlägen kleinbedruckten Stimmzettel studiert und sich fragt,
wo man sein Kreuz zur Rettung des Kontinents machen soll. Christliche, soziale,
freie und ökologische Demokraten stehen auf dem grauen Wahlzettel neben den
Grünen, den Violetten und den Grauen Panthern. Auch Parteien wie die Liebe, die
Humanisten oder Menschliche Welt haben dort ihren Platz. Sollten nicht alle,
die von ins Europaparlament gewählt werden wollen, aus Liebe zu uns und in
unserem Namen für eine menschliche Welt sorgen? Auch Berufsbezeichnungen wie
Angestellter, Geschäftsführer, Beraterin oder Selbstständiger erhellen die
Wahlentscheidung mit Blick auf die Kompetenz der Kandidaten nicht. Je länger
der Wahlgang desto quälende wird die Gewissenserforschung. Doch irgendwann
haben Mutter und ich dann doch unser Kreuz gemacht, wohlwissend, dass bei einer
Quote 1 aus 40 die Chance auf einen Hauptgewinn noch unwahrscheinlicher ist als
beim klassischen Lottospiel 6 aus 45. Doch im Leben wie im Lotto gilt: Nur wer
wagt, gewinnt.
Dieser Text erschien am 21. Mai 2019 in der Neuen Ruhr Zeitung
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