Dienstag, 21. Mai 2019

Politisches Glücksspiel


Der Europa-Wahlgang macht seinem Namen alle Ehre. Der Weg nach Europa ist für Mutter und mich besonders weit. Normalerweise sind Wahlen für uns ein Sonntagsspaziergang ins Wahllokal an der nächsten Straßenecke. Doch diesmal ist alles anders. Der Aufzug in unserem Haus hat ausgerechnet vor der Europawahl seinen Betrieb eingestellt. Seine Wiederherstellung wird uns erst am Tag nach der Wahl in Aussicht gestellt. Schlechte Karten für die Generation Rollator, die vor Jahrzehnten als junger Hüpfer leichtfüßig ins Obergeschoss eingezogen ist, ohne auch nur einen Gedanken an das harte Brot der späten Jahre zu verschwenden. So schnell wird man von seinem demokratischen Wahlrecht abgeschnitten. Ist das nicht ein Fall ein Fall für die Europäische Union? Doch bis Mutter und ich in Brüssel jemanden erreichen, ist die Wahl gelaufen. Also halten wir uns an das Wahlbüro im Rathaus. Briefwahl heißt der Ausweg.


Als Kurier meiner Mutter und unserer Wahl-und Wohngemeinschaft zeigt mir der verlängerte Wahlgang, treppauf und treppab. Demokratie hält einen auf Trapp halten und ist ein schweißtreibendes Geschäft sein, vor allem, wenn man daheim auf dem Küchentisch den 93 Zentimeter langen und mit 40 Wahlvorschlägen kleinbedruckten Stimmzettel studiert und sich fragt, wo man sein Kreuz zur Rettung des Kontinents machen soll. Christliche, soziale, freie und ökologische Demokraten stehen auf dem grauen Wahlzettel neben den Grünen, den Violetten und den Grauen Panthern. Auch Parteien wie die Liebe, die Humanisten oder Menschliche Welt haben dort ihren Platz. Sollten nicht alle, die von ins Europaparlament gewählt werden wollen, aus Liebe zu uns und in unserem Namen für eine menschliche Welt sorgen? Auch Berufsbezeichnungen wie Angestellter, Geschäftsführer, Beraterin oder Selbstständiger erhellen die Wahlentscheidung mit Blick auf die Kompetenz der Kandidaten nicht. Je länger der Wahlgang desto quälende wird die Gewissenserforschung. Doch irgendwann haben Mutter und ich dann doch unser Kreuz gemacht, wohlwissend, dass bei einer Quote 1 aus 40 die Chance auf einen Hauptgewinn noch unwahrscheinlicher ist als beim klassischen Lottospiel 6 aus 45. Doch im Leben wie im Lotto gilt: Nur wer wagt, gewinnt.
Dieser Text erschien am 21. Mai 2019 in der Neuen Ruhr Zeitung

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