Sonntag, 11. November 2018

Kirche für alle statt heiliger Rest

„Kirche für alle oder Heiliger Rest“. Schon der Titel des Buches, das der katholische Sozialdemokrat und Politikberater Erik Flügge im Medienforum des Bistums vorstellt, provoziert.

Und Flügge will provozieren. Seine steile These: 10 Prozent der Katholiken verbrauchen 90 Prozent der Kirchensteuern. 90 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder, die sonntags nicht regelmäßig zum Gottesdienst kommen, in keinem katholischen Verband aktiv sind und auch nicht an Gemeindefesten teilnehmen, gehen leer aus.

Dabei empfiehlt Flügge das, was er seiner derzeit ebenfalls in die Defensive geratenen Partei auch empfiehlt. „Machen Sie Hausbesuche und sprechen Sie mit den Leuten, die sonntags nicht zur Kirche kommen.“

„Können wir das. Wollen die das oder stellen wir uns damit nicht auf die gleiche Ebene wie die Zeugen Jehovas?“ kommt eine Nachfrage aus dem Publikum. Flügge muss selber lachen und meint: „Anders, als die Zeugen Jehovas, sollen Sie den Leuten keine fertige Botschaft aufs Auge drücken, sondern sich für die Menschen und Ihre Anliegen und Fragen interessieren, die zwar noch Kirchensteuer zahlen, aber nicht mehr zum aktiven Kern der Kirche gehören.“

„Das meinen Sie aber nicht wörtlich mit dem Hausbesuch?“ kommt eine weitere Nachfrage aus dem Auditorium. „Doch das meine ich genau so wie ich es sage“, betont Flügge. Und eine Zuhörerin lässt sich von ihm überzeugen: „Das haben wir mal in einem Neubaugebiet gemacht und das kam gut an. Das sollten wir vielleicht wieder machen“, unterstützt die Frau aus dem Publikum Flügges Missionsauftrag, den er natürlich nicht als solchen versteht. Vielmehr geht es ihm um Impulse und die Horizonterweiterung, die die Kirche braucht, um wieder auch bei den Menschen anzukommen, die es nicht als dringendes Bedürfnis empfinden, sonntags die Heilige Messe zu besuchen.

Ein reifer Katholik im besten Alter empfiehlt, von Flügges Buch inspiriert: „Wir brauchen als Kirche kein Kirchenrecht und keine Dogmen. Wir müssen uns wieder auf den Kern, das Evangelium Jesu, konzentrieren. Und wir brauchen mehr geistliche Anregung von unseren Priestern und pastoralen Mitarbeitern.“ Der aktive Katholik, der nach seiner eigenen Aussage schon manchen kritischen Briefwechsel mit der Bistumsspitze hinter sich hat, glaubt, dass es der Liturgie des Gottesdienstes gut tun könnte, wenn Priester nach der Predigt zur Diskussion bitten und auch Kommentare und eigene Gedanken der Gemeindemitglieder in die Erklärung des Sonntagsevangeliums zulassen.

Generalvikar Klaus Pfeffer, dem als Diskutant an diesem von Vera Steinkamp glänzend, weil unaufdringlich, moderierten Abend die Rolle des amtskirchlichen Advokaten zugedacht ist, lässt sich erst gar nicht in diese Rolle hineindrängen. „Wie Erik Flügge bin ich auch der Ansicht, dass es auch in Zukunft eine katholische Kirche geben wird, die gut sein wird, auch wenn sie nicht mehr so sein wird, wie sie heute ist und wie wir älteren sie noch kennengelernt haben.“ Unumwunden räumt Pfeffer dem katholisch-sozialdemokratischen Kirchen-Revoluzzer Erik Flügge ein, „dass es unserer Kirche nur guttun kann, wenn sie freier und offener wird, als sie es in der Vergangenheit war und sich dabei vorurteilsfrei auf den generationsübergreifenden Dialog mit allen ihren Mitgliedern einlässt.“  

Dabei lässt eine aktive Katholikin aus dem Publikum keinen Zweifel daran, dass ihr die Polarisierung zwischen der „Kirche für alle“ und dem „heiligen Rest“ nicht schmeckt und auch nicht zielführend sein kann. „Ich will mit meinem Buch zuspitzen, aufrütteln und anregen. Mir ist es nicht wichtig, wer am Ende zu welcher Gruppe in der Kirche gehört“, entschärft Flügge seine innerkirchliche Lagertheorie und macht deutlich, dass die Kirche aus seiner Sicht nur dann eine gesellschaftlich relevante Zukunft haben wird, wenn sie wie die kränkelnden Volksparteien, ihr Steuerzahlergeld nicht in Steine und Strukturen, sondern in kommunikations- und seelsorgefähige Menschen investiert.“ Dem will der Generalvikar nicht wiedersprechen. Er lässt aber auch durchblicken, dass er die Beharrungskräfte und die Erwartungshaltungen im System Kirche für stark und nur schwer veränderbar hält. Für Erik Flügge steht auf jeden Fall fest: „Wir müssen in der katholischen Kirche den institutionellen Egoismus überwinden, um die individuellen Fähigkeiten der Katholiken, die sich bis zur Selbstaufgabe für ihr Kirche einsetzen, zur Entfaltung zu bringen statt sie zu verschleißen.“ 

ZUR PERSON

Der Politikberater, Vortragsredner und Buchautor Erik Flügge (Jahrgang 1986) stammt aus Backnang/Baden-Württemberg. Bereits als Jugendlicher hat er sich in der Katholischen Kirche, im Deutschen Roten Kreuz und in der SPD engagiert. Nach dem Abitur studierte er ab 2005 in Tübingen Germanistik, katholische Theologie und Politikwissenschaften. Er hat für die SPD unter anderem die erfolgreichen Wahlkampagnen für die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen (2012) und in Niedersachsen (2017) geplant. Außerdem initiierte er für die Deutsche Bischofskonferenz das öffentlichkeitswirksame Blog- und Buch-Projekt „Valerie und der Priester“, in dem eine kirchenferne Journalistin ein Jahr mit einem katholischen Priester aus dem Münsterland lebte und ihre Eindrücke von dessen Alltag beschrieb. (valerieunderpriester.de)

Der aus dem Sauerland stammende Generalvikar des Bistums Essen, Klaus Pfeffer, ist Verwaltungschef des Bistums und des Stellvertreter des Bischofs. Er wurde 1963 geboren und engagierte sich schon als Jugendlicher ehrenamtlich in der Katholischen Kirche. Bevor er an der Ruhr-Universität katholische Theologie studierte und hauptberuflich in der Katholischen Kirche arbeitete, war er als Zeitungsjournalist tätig. Nach seinem Theologie-Studium arbeitete er als Diakon und Kaplan in Gelsenkirchen und Essen. Nach einer Zusatzausbildung am Jugendpastoralinstitut Don Bosco in Benediktbeuern wurde Pfeffer zunächst Stadtjugendseelsorger in Duisburg, ehe er die Leitung des bischöflichen Jugendamtes, des Jugendbildungsstätte St. Altfried in Essen-Kettwig  und die Aufgabe des Diözesan-Jugendseelsorgers übernahm.

Dieser Text erschien am 30. Oktober 2018 im Neuen Ruhrwort 

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