Henriette Arendt wurde am 11. November 1874 als Tochter des
jüdischen Kaufmanns Max Arendt und seiner Frau Johanna Wohlgemut im ostpreußischen
Königsberg geboren. Sie wuchs in einer großbürgerlichen Unternehmerfamilie ohne
materielle Sorgen auf, litt aber unter fehlender Elternliebe. Ihre leibliche
Mutter starb bereits im Jahr nach Henriettes Geburt.
Die wichtigste Bezugsperson ihrer Kindheit und Jugend war
ihre Großmutter, die sie regelmäßig besuchte und später auch pflegte. Diese
prägenden Erfahrungen weckten in Henriette Arendt, der Tante der Philosophin
Hannah Arendt (1906-1975) den Wunsch, Krankenschwester zu werden. Unter dem Eindruck
der ärmlichen Lebensverhältnisse, die sie unter anderem bei den Arbeitern ihres
Vaters kennenlernte, entwickelte Henriette einen starken Gerechtigkeitssinn und
wurde schon bald zu einer Sozialdemokratin, die unter anderem für die
Einführung des Frauenwahlrechtes stritt.
Doch ihr Vater bestimmte sie als Mit-Inhaber einer
Lampen-Export-Firma für eine Ausbildung zur Buchhalterin und Korrespondentin.
1890 hatte sich Arendt versucht, ihrem ungeliebten Schicksal durch Selbsttötung
zu entziehen. Erst als sie mit 21 Jahren volljährig wurde, konnte sie sich
ihren Traum erfüllen. Doch auch als Krankenschwester tat sie sich schwer, sich
ihren Vorgesetzten unterzuordnen und musste deshalb immer wieder ihre
Arbeitsstellen wechseln.
Als Mitglied des von Paula Steinthal geleiteten
Hilfspflegerinnenverbandes erhielt Henriette Arendt durch den damaligen
Stuttgarter Polizeiamtsleiter Karl Wurster im Februar 1903 als erste Frau in
Deutschland eine Anstellung als Polizeiassistentin der Stuttgarter Polizei. Zu
ihren Aufgaben gehörte das Verhör und die Betreuung straffällig gewordener
Frauen und Kinder sowie die Überwachung ihrer polizei-medizinischen
Untersuchungen, die immer wieder vorgekommene Übergriffe auf die oft aus dem
Bereich der Prostitution kommenden Frauen zu verhindern. Darüber hinaus zeigte
sie Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollten, berufliche
Alternativen auf.
Ihre Erfahrungen, unter anderem mit dem von ihr aufgedeckten
Kinderhandel, machte sie in Büchern, Aufsätzen und Vorträgen in Deutschland und
Europa öffentlich und zog als Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin auch
politische Konsequenzen. Das führte dazu, dass die streitbare
Polizeiassistentin sich mit ihren Vorgesetzten bei der Polizei und mit ihrer
Förderin Paula Steinthal überwarf und deshalb im Januar 1909 ihren
Polizeidienst beenden musste. In einem ihrer Vorträge hatte Arendt 1907
festgestellt: „Und wenn wir auch nur ein verirrtes Menschenkind retten und auf
den rechten Weg zurückbringen können, hat sich unsere Arbeit schon gelohnt.“ Im
gleichen Jahr hatte die Polizeiassistentin ihren Erfahrungsbericht: „Menschen,
die ihren Pfad verloren“ veröffentlicht. 1910 und 1911 folgten ihre
Erfahrungsberichte: „Erlebnisse einer Polizeiassistentin“ und „Weiße Sklaven“.
Die Lebenserfahrungen Henriette Arendt sind einzuordnen in
die Klassengesellschaft des Deutschen Kaiserreiches, in der die Bestimmung der
Frau vor allem in der Rolle als Ehefrau und Mutter gesehen wurde. Bildung,
Beruf und politische Mitbestimmung mussten sich die Frauen unter Führung von
Frauenrechtlerinnen wie Louise Otto-Peters (1819-1895), Auguste Schmidt
(1833-1902), Henriette Goldschmidt (1825-1920), Minna Cauer (1841-1922), Marie
Cauer (1861-1950), Gustava Heymann (1868-1943) und Anita Augspurg (1867-1943)
erst erkämpfen mussten. Bis 1918 hatten Frauen kein Wahlrecht. Die
gesellschaftliche Konvention sah sie vor allem als Frau und Mutter. Arendt
rebellierte, wie die Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit dagegen, dass Frauen ein
selbstbestimmtes Leben verweigert. So wie sie, rebellierten auch die Mitglieder
des Bundes Deutscher Frauenvereine, dem 1901 bereits 70.000 Frauen angehörten,
die in 137 Vereinen organisiert waren. Nach dem Tod Henriette Arendts, im Jahr 1922, sollte noch einmal sechs Jahrzehnte vergehen, ehe Frauen als Beamtinnen gleichberechtigt in den Polizeidienst eingestellt wurden.
Literatur zum Thema: Henrike Sappok-Laue: Henriette Arendt –
Krankenschwester, Frauenrechtlerin und Sozialreformerin, Frankfurt am Main 2015
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