Sexueller Missbrauch im Priesteramt. Das Thema treibt
alle um, denen die katholische Kirche am Herzen liegt. Das Auditorium der
Katholischen Akademie reicht am 6. November nicht aus, um das Publikum zu
fassen, das mit dem Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck, seiner
Präventionsbeauftragten Dr. Andrea
Redeker und den Mitautoren der im Auftrag der Bischofskonferenz
erstellten Missbrauchsstudie Prof. Dr. Eric Schmitt und Prof. dr. Andreas Kruse
vom Mannheim Zentralinstitut für seelische Gesundheit diskutieren will.
Die
Zahlen und Fakten, die Schmitt und Kruse vorlegen erschüttern. 3677 Kinder und
Jugendliche waren zwischen 1945 und 2014 von sexuellem Missbrauch durch 1670
katholische Priester betroffen. Fast zwei Drittel aller Opfer waren Jungen im
vor-pubertären Alter. Was diese Zahlen und die dahinter stehenden menschlichen
Schicksale angeht, so mussten die Wissenschaftler einräumen, dass die vorgestellten
Zahlen und Fakten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche nur die Spitze
des Eisbergs abbilden. Denn die Mehrheit der Missbrauchsfälle sei gar nicht
aktenkundig und deshalb auch kirchen- und strafrechtlich gar nicht verfolgt worden.
„Unser
Problem ist, dass viele Fälle bereits verjährt sind“, sagt. Professor Kruse. Angesichts
der erdrückenden Fakten spricht Ruhrbischof Overbeck an diesem langen und
schweren Abend in der Wolfsburg „von einer extremen Vertrauenskrise“, in der
sich die katholische Kirche befinde. Und er verspricht Vertrauen zurückgewinnen
zu wollen, „in dem wir Themen wie den Umgang mit Sexualität, Machtstrukturen
und Klerikalismus, aber auch die Frage der Geschlechtergerechtigkeit und des
damit verbundenen Ämterzugangs in der katholischen Kirche ganz neu reflektieren
müssen.“ Generalvikar Klaus Pfeffer warnt angesichts des menschlichen Abgrunds,
der sich mit der im Auftrag der 27 deutschen Bischöfe erstellten Missbrauchsstudie
auftut, „vor einer fatalen Schlussstrichdebatte, gegen die wir unsere Stimme
erheben müssen.“ Er räumt ein, dass er in den letzten Wochen mit vielen Kirchenmitgliedern
gesprochen habe, die angesichts der Fakten über den sexuellen Missbrauch in der
Kirchen ihren Austritt in Erwägung zögen. „Aber der Entzug von Kirchensteuermitteln
würde die Falschen treffen, weil wir mit diesem Geld doch unsere sozialen
Dienstleistungen bezahlen“, argumentiert der Generalvikar.
Und
die Vorsitzende des Diözesanrates, Dorothé Möllenberg, fordert die Katholiken
des Ruhrgebiets auf, „Gerade jetzt dürfen wir den Bischof nicht alleine lassen
und müssen alle dort, wo wir stehen und arbeiten achtsamer werden und genauer
hinhören, um Missbrauch zu verhindern.“ In diesem Zusammenhang beschreibt die
Präventionsbeauftragte des Bistums die seit 2004 in Essen geltenden Richtlinien,
zu denen eine detaillierte Bewertung aller Missbrauchsfälle durch einen
ehrenamtlichen und mit juristischer, psychologischer, sozialer und
medizinischer Fachkompetenz ausgestattetem Beraterstab des Bischof bewertet und
dann vom Bischof selbst nötigenfalls auch mit einem Strafdekeret oder einer
Strafanzeige weiterverfolgt werde.“ Andrea Redeker sieht aber auch, dass viele
Betroffene sich zwar offenbaren und ihren Missbrauchsgeschichte erzählen
wollen, um weiteren Missbrauchsfällen vorzubeugen, aber aus unterschiedlichsten
persönlichen Gründen vor einer Strafanzeige zurückschreckten.
Die
Studienautoren Kruse und Schmitt empfehlen der Katholischen Kirche eine
tiefgreifende Diskussion des Zölibates und ihrer Machtstrukturen, wollen sich
aber nicht auf eine Forderung nach der Abschaffung des Zölibates festlegen. „Die
Kirche muss sich im Klaren darüber sein, dass Priesteramtskandidaten, die sich
nicht eingehend mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt haben, in der Gefahr
stehen, ihre Sexualität am Ende zur pervertieren und in einen Missbrauch ihrer
Macht abzurutschen, der die Betroffenen nachhaltig und tiefgreifend schädigt.“
So zeige die Studie, dass sich rund 80 Prozent der Betroffenen durch den
Missbrauch in ihrer persönlichen Entwicklung beeinträchtigt sähen. Rund die
Hälfte von ihnen benötige sogar therapeutische Hilfe.
Für
den Vorsitzenden der Vereinigung verheirateter Priester und ihrer Frauen, Dr.
Hans-Jörg Witter, liegen die Konsequenzen aus der Missbrauch auf dem Tisch. „Das
Gesetz des Zölibates und die Sexualfeindlichkeit der Kirche müssen
verschwinden.“ Eine Caritas-Mitarbeiterin wehrt sich vehement dagegen, die
Diskussionen über den Pflichtzölibat und den sexuellen Missbrauch in der Kirche
miteinander zu vermischen. Für sie steht aber auch fest: „Es kann nicht sein,
dass die Frauen in der katholischen Kirche erst dann drankommen, wenn alle
Weihedinge erledigt sind.“
Vehement
weist der Ruhrbischof den Vorwurf eines Alt-Priester zurück, dass es heute unter
den Priesteramtskandidaten „zu viele unreife Jüngelchen“ gebe. Overbeck weist
darauf hin, dass es heute schon Entschlossenheit, Mut und Stärke brauche, um
sich auf das moderne Priesteramt mit seinen vielseitigen Herausforderungen als
Mensch, Macher, Theologe und Seelsorger einzulassen. „Obwohl wir derzeit im
Bistum nur sieben Priesteramtskandidaten haben, betreiben wir eine sorgfältige
und strenge Auswahl, die dazu führt, dass wir 50 Prozent der Bewerber ablehnen“,
schildert Overbeck die Dimension der Priesterrekrutierung. Was die katholische
Kirche für die Betroffenen, neben finanzieller und therapeutischer Hilfe tun
kann, formuliert Professor Schmitt so: „Sie sollte den Betroffenen authentisch
zuhören und deren Erfahrungen in ihre Vorbeugungskonzepte einfließen lassen.“
Dieser Text erschien am 10. November 2018 im Neuen Ruhrwort
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