Samstag, 17. November 2018

Extremer Vertrauensverlust

Sexueller Missbrauch im Priesteramt. Das Thema treibt alle um, denen die katholische Kirche am Herzen liegt. Das Auditorium der Katholischen Akademie reicht am 6. November nicht aus, um das Publikum zu fassen, das mit dem Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck, seiner Präventionsbeauftragten Dr. Andrea Redeker und den Mitautoren der im Auftrag der Bischofskonferenz erstellten Missbrauchsstudie Prof. Dr. Eric Schmitt und Prof. dr. Andreas Kruse vom Mannheim Zentralinstitut für seelische Gesundheit diskutieren will.

Die Zahlen und Fakten, die Schmitt und Kruse vorlegen erschüttern. 3677 Kinder und Jugendliche waren zwischen 1945 und 2014 von sexuellem Missbrauch durch 1670 katholische Priester betroffen. Fast zwei Drittel aller Opfer waren Jungen im vor-pubertären Alter. Was diese Zahlen und die dahinter stehenden menschlichen Schicksale angeht, so mussten die Wissenschaftler einräumen, dass die vorgestellten Zahlen und Fakten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche nur die Spitze des Eisbergs abbilden. Denn die Mehrheit der Missbrauchsfälle sei gar nicht aktenkundig und deshalb auch kirchen- und strafrechtlich gar nicht verfolgt worden.

„Unser Problem ist, dass viele Fälle bereits verjährt sind“, sagt. Professor Kruse. Angesichts der erdrückenden Fakten spricht Ruhrbischof Overbeck an diesem langen und schweren Abend in der Wolfsburg „von einer extremen Vertrauenskrise“, in der sich die katholische Kirche befinde. Und er verspricht Vertrauen zurückgewinnen zu wollen, „in dem wir Themen wie den Umgang mit Sexualität, Machtstrukturen und Klerikalismus, aber auch die Frage der Geschlechtergerechtigkeit und des damit verbundenen Ämterzugangs in der katholischen Kirche ganz neu reflektieren müssen.“ Generalvikar Klaus Pfeffer warnt angesichts des menschlichen Abgrunds, der sich mit der im Auftrag der 27 deutschen Bischöfe erstellten Missbrauchsstudie auftut, „vor einer fatalen Schlussstrichdebatte, gegen die wir unsere Stimme erheben müssen.“ Er räumt ein, dass er in den letzten Wochen mit vielen Kirchenmitgliedern gesprochen habe, die angesichts der Fakten über den sexuellen Missbrauch in der Kirchen ihren Austritt in Erwägung zögen. „Aber der Entzug von Kirchensteuermitteln würde die Falschen treffen, weil wir mit diesem Geld doch unsere sozialen Dienstleistungen bezahlen“, argumentiert der Generalvikar.

Und die Vorsitzende des Diözesanrates, Dorothé Möllenberg, fordert die Katholiken des Ruhrgebiets auf, „Gerade jetzt dürfen wir den Bischof nicht alleine lassen und müssen alle dort, wo wir stehen und arbeiten achtsamer werden und genauer hinhören, um Missbrauch zu verhindern.“ In diesem Zusammenhang beschreibt die Präventionsbeauftragte des Bistums die seit 2004 in Essen geltenden Richtlinien, zu denen eine detaillierte Bewertung aller Missbrauchsfälle durch einen ehrenamtlichen und mit juristischer, psychologischer, sozialer und medizinischer Fachkompetenz ausgestattetem Beraterstab des Bischof bewertet und dann vom Bischof selbst nötigenfalls auch mit einem Strafdekeret oder einer Strafanzeige weiterverfolgt werde.“ Andrea Redeker sieht aber auch, dass viele Betroffene sich zwar offenbaren und ihren Missbrauchsgeschichte erzählen wollen, um weiteren Missbrauchsfällen vorzubeugen, aber aus unterschiedlichsten persönlichen Gründen vor einer Strafanzeige zurückschreckten.

Die Studienautoren Kruse und Schmitt empfehlen der Katholischen Kirche eine tiefgreifende Diskussion des Zölibates und ihrer Machtstrukturen, wollen sich aber nicht auf eine Forderung nach der Abschaffung des Zölibates festlegen. „Die Kirche muss sich im Klaren darüber sein, dass Priesteramtskandidaten, die sich nicht eingehend mit ihrer Sexualität auseinandergesetzt haben, in der Gefahr stehen, ihre Sexualität am Ende zur pervertieren und in einen Missbrauch ihrer Macht abzurutschen, der die Betroffenen nachhaltig und tiefgreifend schädigt.“ So zeige die Studie, dass sich rund 80 Prozent der Betroffenen durch den Missbrauch in ihrer persönlichen Entwicklung beeinträchtigt sähen. Rund die Hälfte von ihnen benötige sogar therapeutische Hilfe.

Für den Vorsitzenden der Vereinigung verheirateter Priester und ihrer Frauen, Dr. Hans-Jörg Witter, liegen die Konsequenzen aus der Missbrauch auf dem Tisch. „Das Gesetz des Zölibates und die Sexualfeindlichkeit der Kirche müssen verschwinden.“ Eine Caritas-Mitarbeiterin wehrt sich vehement dagegen, die Diskussionen über den Pflichtzölibat und den sexuellen Missbrauch in der Kirche miteinander zu vermischen. Für sie steht aber auch fest: „Es kann nicht sein, dass die Frauen in der katholischen Kirche erst dann drankommen, wenn alle Weihedinge erledigt sind.“

Vehement weist der Ruhrbischof den Vorwurf eines Alt-Priester zurück, dass es heute unter den Priesteramtskandidaten „zu viele unreife Jüngelchen“ gebe. Overbeck weist darauf hin, dass es heute schon Entschlossenheit, Mut und Stärke brauche, um sich auf das moderne Priesteramt mit seinen vielseitigen Herausforderungen als Mensch, Macher, Theologe und Seelsorger einzulassen. „Obwohl wir derzeit im Bistum nur sieben Priesteramtskandidaten haben, betreiben wir eine sorgfältige und strenge Auswahl, die dazu führt, dass wir 50 Prozent der Bewerber ablehnen“, schildert Overbeck die Dimension der Priesterrekrutierung. Was die katholische Kirche für die Betroffenen, neben finanzieller und therapeutischer Hilfe tun kann, formuliert Professor Schmitt so: „Sie sollte den Betroffenen authentisch zuhören und deren Erfahrungen in ihre Vorbeugungskonzepte einfließen lassen.“

Dieser Text erschien am 10. November 2018 im Neuen Ruhrwort

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