Mittwoch, 28. November 2018

Begegnung mit einem Zeitzeugen


Es ist nicht einfach, Schüler zwei Stunden lang mit einem Lebensbericht und einem anschließenden Gespräch zu fesseln. Sally Perel kann es. 400 Jugendliche hören ihm in der Aula des Gymnasiums Broich gebannt zu, als der 93-Jährige ihnen erzählt wie er als Jude den Holocaust überlebte, weil er als Hitlerjunge und Wehrmachtssoldat in eine neue Identität schlüpfte und damit den Willen seiner von den Nazis ermordeten Mutter erfüllte: "Geh, Sally. Du musst leben!"



Die Jugendlichen haben ihre Begegnung mit dem Zeitzeugen gut vorbereitet. Sie haben sich den 1990 gedrehten Film "Hitlerjunge Salomon" angeschaut, der die Überlebensgeschichte Sally Perels erzählt. Und sie haben sich zusammen mit ihren Geschichtslehrern Florian Sauer und Seydi Güngör überlegt, welche Fragen sie dem Zeitzeugen aus einer Zeit stellen wollen, die sie und ihre Eltern nur aus dem Geschichtsbuch kennen. Am Ende seines ergreifenden Lebensberichtes sagt Perel seinen jungen Zeitzeugen: "Die Geschichte ist die wichtigste Lehrmeisterin der Menschheit und Zeitzeugen sind die besten Geschichtslehrer. Aber die Zeitzeugen meiner Generation wird es nicht mehr lange geben. Doch jetzt, wo ihr meine Lebensgeschichte gehört habt, seid auch ihr Zeitzeugen und ich gebe euch den Auftrag, dass ihr das Gehörte und eure Erfahrungen an eure Kinder und Kindeskinder weitergebt, damit sich eine menschliche Katastrophe wie sie meine Generation erleben musste, niemals wiederholen kann."



Die Fragen, die Luisa Schleinitz (16), Tom Herzberg (17), Till Herrmann (16) und Xenia Schetter (17) Sally Perel stellvertretend für ihre Mitschüler stellen, zeigen, dass sie seine Botschaft verstanden haben und seinen Auftrag angenommen haben. Und die brutal ehrlichen Antworten, die sie von dem in Peine geborenen und heute in Israel lebenden Sally Perel bekommen, zeigen, dass der Holocaust-Überlebende seinen Auftrag als Zeitzeuge bis zuletzt zu seiner Lebensaufgabe macht. "Wie fühlen Sie sich mit ihrer Lebensgeschichte, wenn Sie hier heute unter deutschen Jugendlichen sitzen?", wollen seine jungen Interviewer wissen: "Ich spüre, dass mein Überleben einen Sinn hat und dass ich meine Mission erfüllt habe, wenn ich auch nur einen Jugendlichen, der mit rechtsextremen Ideen liebäugelt, durch meine Lebensgeschichte eines besseren belehrt habe", sagt Perel.

"Wie sehen Sie die religiös motivierten und begründeten Konflikte zwischen Juden, Christen und Muslimen", fragen die Schüler nach. Perel antwortet: "Gott war nicht in Auschwitz. Ich bin Atheist. Und deshalb sage ich, schafft heute die Religionen ab und wir haben morgen Frieden, weil jede Religion für ihren Gott kämpft und die Anhänger anderer Religionen als Götzendiener ansieht." In der nächsten Fragerunde wollen die Jugendlichen wissen, was aus Perels Bruder geworden ist, der das KZ Dachau überlebt hat, aber inzwischen verstorben ist. "Mein älterer Bruder war für mich mehr Vater als Bruder. Als wir uns 1945 wiedersahen und in die Arme fielen, haben wir wild gelacht. Und er hat mir die Kraft für das Weiterleben gegeben, in dem er mir sagte: 'Mir ist egal wie du überlebt hast. Mir ist nur wichtig, dass du überlebt hast" erklärt Perel.



"Bereuen Sie rückblickend eine Entscheidung", wollen die Schüler wissen. "Ich bereue nichts. Denn hätte ich mich anders verhalten als ich es getan habe, säße ich heute nicht unter Ihnen. Ich habe mich für das Leben entschieden. Denn ich wollte leben", lässt der Zeitzeuge seine jungen Gesprächspartner wissen. Und zum Schluss ihres Zeitzeugengesprächs wollen die Broicher Gymnasiasten von dem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Israeli erfahren, ob er im Nahen Osten einen Weg zum Frieden sieht. "Ich bin in der israelischen Friedensbewegung aktiv, weil ich glaube, dass man dem Frieden nachlaufen muss. Wenn ein Frieden funktionieren soll, muss er gerecht sein. Und das bedeutet für mich. Die israelischen Siedler müssen aus den besetzten Gebiete räumen und es muss neben dem Staat Israel eine Staat Palästina mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem entstehen."



Nach ihrem Zeitzeugeninterview, dass nicht nur ihre Geschichtslehrer beeindruckt, sind sich Xenia, Luisa, Tom und Till einig: "Viele Fakten haben wir vorher schon gekannt. Doch das Gespräch mit dem Zeitzeugen Sally Perel hat uns emotional bewegt und uns eine viel tiefer gehende Vorstellung davon vermittelt, was während des Nationalsozialismus passiert ist."



Dieser Text erschien am  27. November 2018 in NRZ/WAZ

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