Freitag, 22. Dezember 2017

Heinrich Böll: Ein Poet in der Nähe Jesu

Heinrich Böll würde am 21. Dezember 100 Jahre alt, wäre der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972 nicht schon 1985 gestorben. „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ lohnt sich die Lektüre seiner gleichnamigen Satire aus dem Jahr 1952, in der er der bürgerlichen Scheinheiligkeit im Nachkriegsdeutschland den Spiegel vorhält. Der rheinische Katholik aus Köln, der zwei Weltkriege und eine Diktatur überlebte, sagte 1952 über seine Erzählung, in der eine Frau ihre Familie in den Wahnsinn treibt, weil sie jeden Tag Weihnachten feiern möchte: „Sie ist das Sinnbild einer Zeit, von der ich angenommen hatte, dass sie längst vergangen sei.“
Böll, der sich zeitlebens mit der katholischen Amtskirche schwer tat, kehrte ihr am Lebensende den Rücken. Dennoch blieb er auch nach seinem Kirchenaustritt seinen christlichen Wurzeln und Überzeugungen treu. Er betete, besuchte Gottesdienste und ging weiter zur Kommunion, auch deshalb, weil er, wie er einmal schrieb, daran glaubte, „dass Christen das Anlitz der Erde verändern können“. 1974 sagte Böll in einem Gespräch mit Renate Matthei und Peter Hamm: „Mein Verhältnis zur katholischen Kirche als Institution ist vergleichbar meinem Verhältnis zum Deutschsein. Ständige Spannung, ständige Ablehnung und doch das Wissen, unvermeidlich dazuzugehören.“
Er war ein kritischer Mahner und Zeitgenosse. In den 1950er Jahren erinnerte er sich an seine katholische Jugend in den 1930er Jahren und wunderte rückblickend darüber, dass er bei einem Einkehrtag kein einziges Wort der Kritik an Hitler und seiner Judenverfolgung oder über die moralische Frage von Befehl und Gehorsam gehört habe. Wie viele Nachkriegsschriftsteller hatte Böll keine Angst davor, sich politisch zu exponieren, sei es gegen den restaurativen und die NS-Vergangenheit verdrängenden Wirtschaftswunder-Zeitgeist im Deutschland der 1950er Jahre, sei es im Kampf gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition in den 1960er Jahren, sei es für die Entspannungspolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren, sei es gegen die Nato-Nachrüstung und für die Friedensbewegung oder für die Unterstützung der Bootsflüchtlinge aus dem kommunistisch gewordenen Vietnam in den spätern 1970er und in den frühen 1980er Jahren.
In seinem 1953 erschienen Roman „Und sagte kein einziges Wort“ beschreibt Böll eine Kirche, die von seiner unter akuter Wohnungsnot leidenden Protagonistin als hochmütig und scheinheilig verachtet wird, während sie zugleich von einem Priester Hilfe und Beistand erfährt und die Kirche auch als Alltagsoase des Friedens erlebt.
Der in der Autorengruppe 47 groß gewordene Schriftsteller sympathisierte in den Nachkriegsjahren mit einer in Frankreich entstandenen Reformbewegung, die, ganz im Sinne des späteren Konzils-Papstes Johannes XXIII. und des heutigen Papstes Franziskus katholische Arbeiter- und Armenpriester hervorbrachte. In der Herder-Korrespondenz schreibt die Publizistin und Theologin Elisabeth Hurth über Bölls Blick auf die Religion: „Böll lehnt eine Ästhetisierung der Religion ab, die einer unverbindlichen Folgenlosigkeit Vorschub leistet. Diese Folgenlosigkeit zeigt sich für Böll vor allem darin, dass religiöse Formen als Dekor genutzt werden und Religion so letztlich nur noch Mittel zum Zweck ist. Bölls Verurteilung solcher entleerter, folgenloser, Instrumentalisierung von Religion, wirft zugleich einen kritischen Blick voraus auf das, was man heute als Eventisierung und Medialisierung des Religiösen beschreibt.“
Im Bundestagswahljahr 1957, in dem der Kölner Katholik Konrad Adenauer als Bundeskanzler die absolute Mehrheit gewann, kritisierte der Kölner Katholik Heinrich Böll die amtskirchliche Wahlhilfe für CDU und CSU. Außerdem geißelte er in seinem „Brief an einen jungen Katholiken“ die zwiespältige Moraltheologie seiner Kirche, die eine strenge Sexualmoral predige, aber sich gegenüber politischer Unmoral oft blind stelle. Im gleichen Jahr schrieb Böll unter dem Titel: „Eine Welt ohne Christus“ aber auch: „Selbst die allerschlechteste christliche Welt, würde ich der besten heidnischen Welt vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum für die Menschen gibt, für die keine heidnische Welt Raum hatte, für Krüppel und Kranke. Die christliche Welt hat noch mehr als Raum für Alte und Schwache. Hier gibt es für diese Menschen Liebe, die die heidnische Welt als nutzlos ansieht.“
18 Jahre später kam Böll in einem Interview mit Günter Nenning zu dem Ergebnis: „Die Kirche in der Bundesrepublik Deutschland ist ein Unternehmen, auch im kapitalistischen Sinne. Doch Unternehmer riskieren etwas. Der hat eine Idee. Der baut eine Fabrik. Der investiert Geld. Das kann schief gehen. Die Kirche, hier in der Bundesrepublik riskiert nichts. Sie ist einfach, gesetzlich verankert, an unserer Arbeit, an unseren Einkommen beteiligt. Ich habe das öffentlich als ‚Zuhälterei‘ bezeichnet. Das hindert unsere Amtskirche aber nicht daran, auch weiterhin bei der Kirchensteuer zu pfänden.“


Sicher hätte der kritische Katholik Heinrich Böll, den ein evangelischer Pfarrer einmal als „einen Poeten in der Nähe Jesu“ beschrieben hat, seine Freude daran, dass die Evangelische Lukas-Gemeinde in Mülheim an seinem 100. Geburtstag in ihrem Styrumer Gemeindehaus an der Albertstraße 89 (um 19.30 Uhr) die Verfilmung seiner Satire: „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ zeigt. Prädikat; Unbedingt sehenswert!

Dieser Text erschien am 16. Dezember 2017 im Neuen Ruhrwort

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