Heinrich
Böll würde am 21. Dezember 100 Jahre alt, wäre der
Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972 nicht schon 1985
gestorben. „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ lohnt sich die Lektüre
seiner gleichnamigen Satire aus dem Jahr 1952, in der er der
bürgerlichen Scheinheiligkeit im Nachkriegsdeutschland den Spiegel
vorhält. Der rheinische Katholik aus Köln, der zwei Weltkriege und
eine Diktatur überlebte, sagte 1952 über seine Erzählung, in der
eine Frau ihre Familie in den Wahnsinn treibt, weil sie jeden Tag
Weihnachten feiern möchte: „Sie ist das Sinnbild einer Zeit, von
der ich angenommen hatte, dass sie längst vergangen sei.“
Böll,
der sich zeitlebens mit der katholischen Amtskirche schwer tat,
kehrte ihr am Lebensende den Rücken. Dennoch blieb er auch nach
seinem Kirchenaustritt seinen christlichen Wurzeln und Überzeugungen
treu. Er betete, besuchte Gottesdienste und ging weiter zur
Kommunion, auch deshalb, weil er, wie er einmal schrieb, daran
glaubte, „dass Christen das Anlitz der Erde verändern können“.
1974 sagte Böll in einem Gespräch mit Renate Matthei und Peter
Hamm: „Mein Verhältnis zur katholischen Kirche als Institution ist
vergleichbar meinem Verhältnis zum Deutschsein. Ständige Spannung,
ständige Ablehnung und doch das Wissen, unvermeidlich
dazuzugehören.“
Er
war ein kritischer Mahner und Zeitgenosse. In den 1950er Jahren
erinnerte er sich an seine katholische Jugend in den 1930er Jahren
und wunderte rückblickend darüber, dass er bei einem Einkehrtag
kein einziges Wort der Kritik an Hitler und seiner Judenverfolgung
oder über die moralische Frage von Befehl und Gehorsam gehört habe.
Wie viele Nachkriegsschriftsteller hatte Böll keine Angst davor,
sich politisch zu exponieren, sei es gegen den restaurativen und die
NS-Vergangenheit verdrängenden Wirtschaftswunder-Zeitgeist im
Deutschland der 1950er Jahre, sei es im Kampf gegen die
Notstandsgesetze der Großen Koalition in den 1960er Jahren, sei es
für die Entspannungspolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren, sei
es gegen die Nato-Nachrüstung und für die Friedensbewegung oder für
die Unterstützung der Bootsflüchtlinge aus dem kommunistisch
gewordenen Vietnam in den spätern 1970er und in den frühen 1980er
Jahren.
In
seinem 1953 erschienen Roman „Und sagte kein einziges Wort“
beschreibt Böll eine Kirche, die von seiner unter akuter Wohnungsnot
leidenden Protagonistin als hochmütig und scheinheilig verachtet
wird, während sie zugleich von einem Priester Hilfe und Beistand
erfährt und die Kirche auch als Alltagsoase des Friedens erlebt.
Der
in der Autorengruppe 47 groß gewordene Schriftsteller sympathisierte
in den Nachkriegsjahren mit einer in Frankreich entstandenen
Reformbewegung, die, ganz im Sinne des späteren Konzils-Papstes
Johannes XXIII. und des heutigen Papstes Franziskus katholische
Arbeiter- und Armenpriester hervorbrachte. In der
Herder-Korrespondenz schreibt die Publizistin und Theologin Elisabeth
Hurth über Bölls Blick auf die Religion: „Böll lehnt eine
Ästhetisierung der Religion ab, die einer unverbindlichen
Folgenlosigkeit Vorschub leistet. Diese Folgenlosigkeit zeigt sich
für Böll vor allem darin, dass religiöse Formen als Dekor genutzt
werden und Religion so letztlich nur noch Mittel zum Zweck ist. Bölls
Verurteilung solcher entleerter, folgenloser, Instrumentalisierung
von Religion, wirft zugleich einen kritischen Blick voraus auf das,
was man heute als Eventisierung und Medialisierung des Religiösen
beschreibt.“
Im
Bundestagswahljahr 1957, in dem der Kölner Katholik Konrad Adenauer
als Bundeskanzler die absolute Mehrheit gewann, kritisierte der
Kölner Katholik Heinrich Böll die amtskirchliche Wahlhilfe für CDU
und CSU. Außerdem geißelte er in seinem „Brief an einen jungen
Katholiken“ die zwiespältige Moraltheologie seiner Kirche, die
eine strenge Sexualmoral predige, aber sich gegenüber politischer
Unmoral oft blind stelle. Im gleichen Jahr schrieb Böll unter dem
Titel: „Eine Welt ohne Christus“ aber auch: „Selbst die
allerschlechteste christliche Welt, würde ich der besten heidnischen
Welt vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum für die
Menschen gibt, für die keine heidnische Welt Raum hatte, für
Krüppel und Kranke. Die christliche Welt hat noch mehr als Raum für
Alte und Schwache. Hier gibt es für diese Menschen Liebe, die die
heidnische Welt als nutzlos ansieht.“
18
Jahre später kam Böll in einem Interview mit Günter Nenning zu dem
Ergebnis: „Die Kirche in der Bundesrepublik Deutschland ist ein
Unternehmen, auch im kapitalistischen Sinne. Doch Unternehmer
riskieren etwas. Der hat eine Idee. Der baut eine Fabrik. Der
investiert Geld. Das kann schief gehen. Die Kirche, hier in der
Bundesrepublik riskiert nichts. Sie ist einfach, gesetzlich
verankert, an unserer Arbeit, an unseren Einkommen beteiligt. Ich
habe das öffentlich als ‚Zuhälterei‘ bezeichnet. Das hindert
unsere Amtskirche aber nicht daran, auch weiterhin bei der
Kirchensteuer zu pfänden.“
Sicher
hätte der kritische Katholik Heinrich Böll, den ein evangelischer
Pfarrer einmal als „einen Poeten in der Nähe Jesu“ beschrieben
hat, seine Freude daran, dass die Evangelische Lukas-Gemeinde in
Mülheim an seinem 100. Geburtstag in ihrem Styrumer Gemeindehaus an
der Albertstraße 89 (um 19.30 Uhr) die Verfilmung seiner Satire:
„Nicht nur zur Weihnachtszeit“ zeigt. Prädikat; Unbedingt
sehenswert!
Dieser Text erschien am 16. Dezember 2017 im Neuen Ruhrwort
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