Die meisten Menschen, die an mir
vorbei laufen, lassen mich links liegen. Denn ich liege in einer Krippe im Stall
auf dem Synagogenplatz. Die Adresse gefällt mir. Auch wenn man mich heute gerne
als Christkind verkauft, bin ich ja seinerzeit als jüdisches Kind in einem Stall
in Betlehem geboren worden. Auch wenn mir meine irdischen Eltern Maria und Josef
im Stall am Synagogenplatz Gesellschaftleisten, finde ich es schade, dass sich
nur wenige Menschen die Zeit nehmen, um bei mir vorbeizuschauen und einen Moment
innezuhalten. Die Meisten hetzten in die Geschäfte, um etwas zu kaufen, von dem
sie glauben, dass sie ohne es meinen Geburtstag nicht feiern könnten. Auch ich
habe zum Geburtstag Weihrauch, Gold und Myrrhe geschenkt bekommen, aber deshalb
muss man sich heute doch keinen Konsummarathon antun und darüber vergessen,
worum es an meinem Geburtstag wirklich geht, nämlich um Unbezahlbares: Um Liebe,
Hoffnung, Glaube, Zeit und Zuwendung. Dieser Text erschien am 23. Dezember 2017 in der Neuen Ruhr Zeitung |
Sonntag, 24. Dezember 2017
Ansichten eines Christkindes
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