Mittwoch, 13. März 2019

Einblicke ins Jüdische Alltagsleben


Berichtete Schüler aus seinem jüdischen 
Alltag in Deutschland: Alex Bondarelenko.
Christian Kamann unterrichtet unter anderem Politik an der Realschule Mellinghofer Straße. Der Lehrer hat unterschiedliche Erfahrungen gemacht, wenn es um die Themen Judentum und Antisemitismus geht. Einerseits engagieren sich viele seiner Schüler in der Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine. Hier recherchieren und dokumentieren sie Opfer-Biografien aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Ergebnis ihrer Arbeit ist eine Wanderausstellung, die auch Jugendlichen an anderen Schulen den Holocaust näherbringt.

Andererseits ist Kamann darüber erschrocken, wenn er in dem einen oder anderen Schülerstreit schon mal den als Beschimpfung gedachten Ausdruck „du Jude“ hört. Auch wenn der Politiklehrer darin keinen fundierten Antisemitismus, sondern gedankenlose Unwissenheit sieht, haben ihn seine zwiespältigen Erfahrungen dazu motiviert, sich an Rent a Jew zu wenden. Das ist ein ehrenamtlicher Referentenpool von deutschen Juden, die zum Beispiel wie jetzt in der Realschule an der Mellinghofer Straße, mit Jugendlichen über ihren Alltag als einer von derzeit 100.000 Juden in Deutschland ins Gespräch kommen. Damit wollen Sie Unwissenheit, Vorurteile oder Berührungsängste überwinden.

Genau das tat jetzt auch Alex Bondarelenko. Der 30-Jährige, der als Jugendreferent beim Jüdischen Sportverband Makkabi Deutschland arbeitet, gehört zur Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Sie ist mit 7000 Mitglieder deutlich größer als die 2500 Mitglieder zählende Jüdische Gemeinde Mülheim-Duisburg-Oberhausen, besteht aber genau wie diese zu rund 90 Prozent aus Mitgliedern, die ihre Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion haben.

Schon die ersten Fragen aus der 15-köpfigen Schülerrunde zeigt, warum der studierte Marketingfachmann Alex Bondarelenko  gut daran tut, Jugendlichen etwas über jüdisches Leben im Deutschland des Jahres 2019 zu erzählen: „Waren Sie selbst, Ihre Eltern oder Ihre Großeltern im Konzentrationslager?“ wollen Schüler von ihm wissen: „Dafür bin ich zu jung. Das war ja von 1933 bis 1945 und damit deutlich vor meiner Zeit. Auch meine Eltern und Großeltern, die aus der Ukraine stammen, mussten das nicht erleiden. Meine Großeltern wurden nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion 1941 nach Weißrussland und Kasachstan evakuiert. Ich selbst bin in der Ukraine geboren und als Neunjähriger in den 1990er Jahren mit meinen Eltern nach Deutschland gekommen, weil meine Mutter als Jüdin in der damaligen Sowjetunion keine Schulleiterin werden konnte. Ich habe erst mit 10 Jahren erfahren, dass ich Jude bin“, skizziert Bondarelenko seinen Lebenslauf.

„Judentum in Deutschland ist eben nicht nur Hitler und Holocaust“, betont er und bestätigt auf Nachfrage, „dass ich mich in Deutschland wohlfühle und auch viele nichtjüdische Freude habe.“ Das schließt für den verheirateten Vater von zwei Kindern nicht aus, „dass ich bestimmte politisch und gesellschaftliche Tendenzen in Deutschland kritisch sehe, obwohl ich selbst noch keine antisemitische Diskriminierung erfahren musste.“

Im Gespräch über die religiöse Praxis in den Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam werden schnell Gemeinsamkeiten deutlich. Bondarelenko liest aus der Tora vor, die die Christen als Altes Testament kennen und rezitiert singend ein Gebet zum Beginn des Schabbat, den Juden so wie die Christen den Sonntag und die Muslime den Freitag als siebten Tag der Woche feiern, an dem man ruhen und dem Schöpfungswerk Gottes gedenken soll. Die Beschneidung von Jungen kennt man im Islam ebenso wie im Judentum. Die jüdische Kipa und der jüdische Gebetmantel, die Alex Bondarelenko den Schüler vorführt erinnern seine christlichen Zuhörer an die Gewänder der Priester und die Kopfbedeckung der Bischöfe.

Im jüdischen Lichterfest Chanukka, an dem die Juden der Einweihung des zweiten Tempels in Jerusalem gedenken und das mit dem Anzünden von Kerzen, einem Festmahl im Freundes- und Familienkreis und mit dem Beschenken der Kinder feiern, erkennen viele Schüler Ähnlichkeiten zum christlichen Weihnachtsfest. Und das Jüdische Purimfest, an dem sich Juden kostümieren, feiern, Süßes naschen und ihre Honoratioren aufs Korn nehmen, erscheint den Dümptener Realschülern zurecht als so etwas wie den Jüdischen Karneval, der die Freude über die Rettung des von Mordplänen in der persischen Diaspora bedrohten jüdischen Volkes feiert.

Das Gespräch zwischen den Schülern und Alex Bondarelenko pendelt zwischen religiösen Regel, Alltagsleben, Hobbys, Familie und Freunden. Plötzlich wird in der Runde deutlich, was Bondarelenko, so auf den Punkt bringt: „Wir sind alle nur Menschen, egal woran wir glauben oder auch nicht glauben. Und wir werden diese Welt nur dann zu einem besseren Ort machen, wenn wir uns als Menschen respektieren und achten und nicht so tun, als sei unsere Religion besser als die anderer Menschen.“

Da stimmen ihm seine junge Zuhörer, die ihn nach 45 lehrreichen Schulminuten applaudieren, zu. Doch die meisten sind schon überrascht, dass gläubige Juden keine fleischigen und milchigen Lebensmittel gemeinsam verzehren dürfen, weil das im Judentum als „nicht koscher“ gilt. Bondarelenko erklärt ihnen das mit dem Gebot der Tora: „Du sollst das Kälblein nicht in der Milch seiner Mutter baden!“ Und dann sagt er mit einem Augenzwinkern ganz pragmatisch: „Wenn meine nicht-jüdischen Freunde in einem bestimmten Schnellrestaurant Cheeseburger essen, bestelle ich mir eben nur Pommes.“
Und auch, was ihnen Bondarelenko über orthodoxe und liberale Juden erzählt hat, kennen seine jungen christlichen und muslimischen Zuhörer nur zu gut aus ihrer Religion nur zu gut, nämlich dass man ihre Regeln, je nach Lesart und Interpretation strenger oder toleranter auslegen kann. Und auch wenn Alex Bondarelenko in einer Unterrichtsstunde nicht alle Fragen über das Judentum und Juden im heutigen Deutschland beantworten kann, bleibt nicht nur für Lehrer Christian Kamann das gute Gefühl, „dass die Schüler heute wichtige Denkanstöße in Sachen Toleranz mitnehmen und einige Wissenslücken schließen konnten.“ 

Dieser Text erschien am 11. März 2019 in der Neuen Ruhr Zeitung

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