Auch wer die aktuelle Berichterstattung zum Thema Kinderarmut verfolgt hat, wonach jedes dritte Kind in Mülheim von Armut bedroht ist, musste am Samstag schlucken, als die SPD zu eben diesem Thema in die Stadthalle eingeladen hatte. Die Kinderarmut hat in Mülheim seit 2006 um 50 Prozent zugenommen. Und in der Stadtmitte wachsen heute zwei Drittel der Kinder in Familien auf, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind. „In diesen Zahlen sind die von Armut bedrohten Familien, die aber kein Arbeitsgeld II bekommen, noch gar nicht mit enthalten“, betonte der Sozialwissenschaftler Volker Kersting, den viele Mülheimer noch als Stadtforscher kennen und der inzwischen als Regionalforscher an die Ruhruniversität Bochum gewechselt ist.
Kersting stellte aber auch die andere Seite der sozialen Medaille vor. Zwischen 2013 und 2015 ist die Zahl der Mülheimer Einkommensmillionäre von 43 auf 58 angestiegen. Die Betroffenheit ob dieser Zahlen, die plakativ zeigen, wie in unserer Stadt die sozial Schere auseinandergegangen ist, war unter den Zuhörern aus Politik, Verwaltung und Sozialarbeit mit Händen zu greifen.
„Wir haben das Thema ja seit Jahren erforscht und bearbeitet. Wir waren nicht untätig, aber es hat sich verschärft und deshalb müssen wir dran bleiben“, lautete für den ehemaligen Chef der Sozialagentur, Klaus Konietzka die Konsequenz. Der als Integrationsfachkraft bei der Stadt arbeitende Murat Özdemir wies darauf hin, dass 70 Prozent der Kinder, die in Arbeitsgeld II beziehenden Familien leben, Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabe-Paket des Bundes in Anspruch nehmen und damit die Möglichkeit haben, von Bildungs,- Sport und Kulturangeboten zu profitieren. Özdemir machte aber auch deutlich, dass nicht nur Staat und Politik, sondern auch die Eigenverantwortung der Eltern gefordert sei, um ihre Kinder nach bestem Wissen und Gewissen aus der materiellen und geistigen Armut herauszuführen. Ihm sprang auch die Vorsitzende des Vereins Hilfe für Frauen, Nicole Weyers, bei, die beruflich als Fallmanagerin für die Sozialagentur arbeitet. Angesichts des extrem hohen Armutsrisikos, dass alleinerziehende Mütter und ihre Kinder haben, forderte Weyers mehr fordernde Förderung für junge Männer und junge Väter, die sich zu oft ihrer Verantwortung entzögen.
„Das schaffen wir als SPD nicht alleine. Dafür brauchen wir Partner im Rat und in der Bürgerschaft, aber auch mehr Unterstützung vom Land und vom Bund“, formulierte der sozialpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Rodion Bakum den politischen Handlungsauftrag.
Aufmerksame Zuhörer fand auch der Geschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, Holger Hofmann, der unter anderem vom Potsdamer Projekt eines lokalen Aktionsplans gegen Kinderarmut berichtete.
Dort ist man dabei, die Vernetzung der örtlichen Akteure, die im Bereich Familien und Kinder arbeiten, voranzutreiben. Hofmann nannte unter anderem die ungewöhnliche, aber sehr erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen einem Fußballverein und der Stadtbücherei, die gemeinsam eine viel größere Zahl von Kindern und Eltern erreicht haben und so gemeinsam an Bildung, Sprache, Sozialverhalten und Bewegung arbeiten können. Wegweisend hält er auch die in Potsdam auf den Weg gebrachte Familienkarte, die die Leistungen für Kinder und Familien vom Sportverein über die Bibliotheksnutzung bis zum öffentlichen Personennahverkehr bündelt und so die Stigmatisierung bedürftiger Eltern und Kinder minimiert und dafür sorgt, dass sie am öffentlichen Leben teilnehmen können.
Doch Hofmann sieht nicht nur die Kommunen, sondern auch den Bund in der Pflicht. Er müsse die 154 Hilfeleistungen für Kinder in einem Bundeskinderteilhabegesetz bündeln und eine steuerfinanzierte Kindergrundsicherung einführen. Für Sozialforscher Kersting ist angesichts langzeitarbeitsloser Eltern klar: „Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt!“
Dieser Text erschien am 10. September 2018 in NRZ/WAZ
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