Freitag, 22. September 2017

Wahl mit Handicap Heike, Melanie und Thorsten wissen trotz ihrer Behinderung genau, was bei der Wahl wirklich wichtig ist

124 000 Mülheimer haben am 24. September die Wahl. Zu ihnen gehören auch Melanie (38), Thorsten (39) und Heike (60). Deshalb studieren sie jetzt mit Peter Bürgl und Martina Hackert-Kleinken in der von der Fliedner-Stiftung und der Lebenshilfe betriebenen Kontakt- und Beratungsstelle Kokobe an der Kaiserstraße den Wahlzettel und die in leichter Sprache geschriebenen Wahlprüfsteine der Partein, die die Lebenshilfe für Menschen  mit geistiger Behinderung bei den Wahlkämpfern angefordert hat.
„Mein Gott ist der lang“, findet Thorsten, als er den Muster-Wahlzettel sieht, den Hackert-Kleinken mitgebracht hat. Auf dem Wahlzettel stehen 48 Parteien, die sich um ein Mandat im 19. Deutschen Bundestag bewerben.

Thorsten muss lachen, als er beginnt, den Wahlzettel von unten nach oben zu lesen. „ÖDP, die kenne ich gar nicht!“, sagt er. „Ökologisch, demokratische Partei“, liest ihm Martina Hackert-Kleinken vor. „Was ist das denn?“ fragt Thorsten weiter, als er auf dem Wahlzettel die Partei für Veränderung, Vegetarier und Veganer entdeckt. „Das ist eine Partei für Menschen, die kein Fleisch essen“, erklärt Hackert-Kleinken. „Dann ist das nichts für uns. Denn wir essen gerne Fleisch“, sind sich Melanie und Thorsten einig. Die Deutsche Tierschutzpartei erscheint ihnen da schon sympathischer. Denn beide mögen Hunde.
Melanie und Heike sind sich einig: Die nächste Bundeskanzlerin oder der nächsten Bundeskanzler „sollten unbedingt dafür sorgen, dass die männlichen Kücken nicht gleich nach der Geburt getötet werden, weil sie später keine Eier legen können.“

„NPD!“, liest sich Thorsten weiter den Wahlzettel hoch. Welche Politik hinter diesem Parteikürzel steht, fasst er mit dem Hinweis an seine Mitwählerinnen zusammen: „Die dürft ihr nicht wählen. Die haben etwas gegen Behinderte und Ausländer!“
Die Partei- und Kandidatennamen im oberen Drittel des Wahlzettels sind Heike, Melanie und Thorsten schon bekannt. CDU, SPD, FDP, Grüne, Linke, AFD. Davon haben sie schon gehört. „Die Frau habe ich erst kürzlich in der Stadt getroffen und mich mit ihr unterhalten“, erzählt Heike, als sie in der linken Spalte mit den Mülheimer Direktkandidaten für den Bundestag den Namen der Christdemokratin Astrid Timmermann-Fechter entdeckt.

Martina Hackert-Kleinken schaltet sich ein: „Ihr wisst, dass ihr bei der Bundestagswahl zwei Stimmen habt?“  Melanie nickt: „Eine hier und eine da“, sagt sie und zeigt auf die linke und auf die rechte Spalte des Wahlzettels. Peter Bürgl ergänzt: „Mit euerem Kreuz in der linken Spalte sagt ihr, welcher Kandidat für den Wahlkreis Essen-Mülheim in den Bundestag gewählt werden soll. Und das Kreuz in der rechten Spalte entscheidet darüber, welche Partei im Bundestag die meisten Sitze bekommt.“

Melanie, die sich noch nicht entschieden hat, wen und welche Partei sie am 24. September wählen soll, fragt: „Darf ich sagen, was ich gewählt habe?“ Hackert-Kleinken klärt sie auf: „Die Wahl ist geheim. Das heißt, du kannst natürlich sagen, wen du gewählt hast, aber du musst es nicht!“ Melanie ist noch nicht beruhigt: „Und was mache ich, wenn die Partei, die ich gewählt habe, die Wahl verliert?“ will sie wissen. „Dann ist diese Partei in der Opposition und sagt, was sie an der Politik der Regierung schlecht findet und wie sie es besser machen würde.

„Ich glaube, ich nehme die Merkel! Die kenne ich“ sagt Thorsten plötzlich, nach dem er den Wahlzettel rauf und runter gelesen hat. Darüber kann Heike nur den Kopf schütteln: „Diese Dame ist schon viel zu lange im Amt“ sagt sie und zeigt offen ihre Sympathie für die SPD und ihren Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Ihn hat sie erst vor einigen Monaten im Landtagswahlkampf mit Hannelore Kraft auf der Schloßstraße gesehen. „Ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten. Aber ich bin nicht durchgekommen, weil da zu viele Leibwächter um ihn herum waren“, erinnert sie sich. Gerne erinnerte sich Heike an den SPD-Bundestagsabgeordneten Anton Schaaf. „Der hat mir mal eine Tafel Schokolade geschenkt“, berichtet sie.

Doch die Drei, die selbstständig in einer von der Fliedner-Stiftung betreuten Wohnung leben und ihr Geld, wie Heike als Hilfskraft im Theater an der Ruhr, wie Melanie in der Elektronabteilung und wie Thorsten in der Kantine der Fliedner-Werkstatt an der Lahnstraße verdienen, wollen von den gewählten Politikern mehr als Schokolade. „Eine neue Tür für unsere Werkstatt! Weniger Baustellen in der Stadt! Eine höhere Grundsicherung! Bezahlbare und barrierefreie Wohnungen! Mehr freundliche und hilfsbereite Straßenbahn- und Busfahrer! Und weniger Menschen, die schlecht über Behinderte reden!“ Das sind ihre Wünsche an ihre Mandatsträger und an ihre Mitmenschen.

Nicht jeder hat die Wahl


Laut Bundesregierung sind 84 000 Bundesbürger über 18 bei der Bundestagswahl vom Wahlrecht ausgeschlossen. In Mülheim haben, nach Angaben der Stadt, „einige 100“ Mitbürger am 24. September keine Wahl, weil sie aufgrund einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung, per Gerichtsbeschluss, „in allen Lebensbereichen unter gesetzliche Betreuung gestellt worden sind.“

Per Gerichtsbeschluss kann auch inhaftierten Straftätern, die eine schwere Straftat begangen haben, das Wahlrecht auf Zeit entzogen werden.

Das Menschen aufgrund einer geistigen Behinderung nicht wählen dürfen, finden Heike, Melanie und Thorsten „ungerecht“ und „nicht richtig, weil wir doch auch dazu gehören und weil wir alle Menschen sind.“ Auch ihre Betreuer Peter Bürgl und Martina Hackert-Kleinken sind sich einig: „Menschen mit geistiger Behinderung, die ohnehin keine starke politische Lobby haben, vom Wahlrecht ausschließen ist nicht richtig. Das auch Menschen mit geistiger Behinderung wählen, darf in einer großen und starken Demokratie, wie der unseren eigentlich kein Problem sein.“ 

Dieser Text erschien am 20. September 2017 in NRZ/WAZ

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