Unsere tägliche Straßenbahn gib uns heute. Auch gestern war
ich, wie am Tag davor, mit der Bahn von einem Termin zum nächsten unterwegs.
Diesmal war ich sogar pünktlich und wurde mitgenommen. Offensichtlich machte
ich aber auch einen mitgenommenen Eindruck. Ich stand im Mittelgang der Bahn
und hielt mich links und rechts an einer Stange fest. „Wollen Sie sitzen?“
fragte ein Mädchen. Ich drehte mich um. Mal sehen, welchem alten Mann die
höfliche junge Dame ihren Sitzplatz anbieten wollte. Die Jugend ist doch besser
als ihr Ruf. Schon war ich auf dem Sprung, um dem alten Mann hinter mir den Weg
frei zu machen. Doch dann stellte ich fest: Hinter mir stand kein alter Mann.
Ich war selbst der alte Mann, zumindest in den Augen der ganz jungen Dame. Ich
straffte mich, legte mein jugendlichstes Lächeln an den Tag und lehnte den mir
angebotenen Sitzplatz dankend ab. Standhaft fuhr ich bis zu meiner
Endhaltestelle. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss, auch wenn er die 50 überschritten
hat und in das Alter kommt, in dem er zumindest von den ganz jungen Damen und Herren
für alt gehalten wird. Noch vor kurzem gehörte der so erschrockene Frühfünfziger
selbst zu den Jungen. Vergangenheit. Ich ging nachdenklich meines Weges bis
mich eine alte Dame mit Rollator moralisch wieder aufbaute. Ich hielt ihr eine
Haustür auf. „Danke, junger Mann!“, sagte sie und streichelte damit meine
Seele. Man versteht sich, alte Schule eben. Als reifes Semester weiß man. Alter
ist nur eine Frage der Zeit.
Dieser Text erschien am 15. Januar 2020 in der Neuen Ruhrzeitung
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