Donnerstag, 2. Januar 2020

Mül(l)heimer Neujahrsansichten

„Wo der eine Wanderer in einem Steinhaufen am Wegesrand nur einen Steinhaufen sieht, erkennt der andere das Potenzial für eine Kathedrale“, zitierte Stadtdechant Michael Janßen in seiner Silvesterpredigt den französischen Schriftsteller Antoine de Saint-Exupery.


Damit wollte Janßen seinen Zuhörern in St. Mariae Geburt Mut machen, auch im neuen Jahr neugierig auf Neues zu sein und dabei der eigenen Fantasie und Kreativität zu vertrauen. Wunderbar beflügelt wurde meine Fantasie gestern durch die malerischen Klänge und Ballettfilmszenen des Wiener Neujahrskonzertes. Da flogen dem Bonner Wahl-Wiener Ludwig van Beethoven durch einen Windstoß Notenblätter aus dem Fenster, die eine junge Frau, die auf Beethovens Spuren durch Wien wandelte, vom Straßenpflaster auflas und in die österreichische Nationalbibliothek brachte. Ein schönes Bild, das leider einen brutalen Kontrast erfuhr, als ich nach dem Konzert meinen Neujahrsgang über die Schloßstraße antrat, die zu diesem Zeitpunkt von den profanen und so gar nicht schön anzusehenden Resten der Feuerwerkssinfonie der Silvesternacht übersät war. Ob dieser Neujahrsaussicht fehlte mir die Fantasie, siehe  Antoine de Saint-Exupery, das kreative Potenzial dieser infernalischen Müll-Kakofonie zu erkennen. Waren hier kreative Chaoten am Werk? Wohl eher nicht. Doch dann tröstete mich der Geistesblitz, dass wir in Mülheim zwar keine Balletttruppe haben, die grazil Notenblätter vom Straßenpflaster auflesen könnte, dafür aber eine tatkräftige Müllabfuhr, die auch heute wieder vorbildlich die gröbsten Dissonanzen in unserem Stadtbild beseitigen wird, damit Mülheim nicht zu Müllheim wird. Wenn das keine Lobeshymne wert ist. Die kann ich hier nicht so klangvoll wie die Wiener Philharmoniker, sondern nur mit etwas Wortgeklimper, das von Herzen kommt, anstimmen kann. Denn auch dass wissen wir von Antoine de Saint-Exupery: „Nur mit dem Herzen sieht man gut.“

Dieser Text erschien am 2. Januar 2020 in der NRZ

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