„Wo der eine Wanderer in einem
Steinhaufen am Wegesrand nur einen Steinhaufen sieht, erkennt der andere das
Potenzial für eine Kathedrale“, zitierte Stadtdechant Michael Janßen in seiner
Silvesterpredigt den französischen Schriftsteller Antoine de
Saint-Exupery.
Damit wollte Janßen seinen
Zuhörern in St. Mariae Geburt Mut machen, auch im neuen Jahr neugierig auf
Neues zu sein und dabei der eigenen Fantasie und Kreativität zu vertrauen.
Wunderbar beflügelt wurde meine Fantasie gestern durch die malerischen Klänge und
Ballettfilmszenen des Wiener Neujahrskonzertes. Da flogen dem Bonner
Wahl-Wiener Ludwig van Beethoven durch einen Windstoß Notenblätter aus dem Fenster,
die eine junge Frau, die auf Beethovens Spuren durch Wien wandelte, vom
Straßenpflaster auflas und in die österreichische Nationalbibliothek brachte. Ein
schönes Bild, das leider einen brutalen Kontrast erfuhr, als ich nach dem
Konzert meinen Neujahrsgang über die Schloßstraße antrat, die zu diesem Zeitpunkt
von den profanen und so gar nicht schön anzusehenden Resten der
Feuerwerkssinfonie der Silvesternacht übersät war. Ob dieser Neujahrsaussicht fehlte
mir die Fantasie, siehe Antoine de Saint-Exupery, das kreative Potenzial dieser
infernalischen Müll-Kakofonie zu erkennen. Waren hier kreative Chaoten am Werk?
Wohl eher nicht. Doch dann tröstete mich der Geistesblitz, dass wir in Mülheim zwar
keine Balletttruppe haben, die grazil Notenblätter vom Straßenpflaster auflesen
könnte, dafür aber eine tatkräftige Müllabfuhr, die auch heute wieder vorbildlich
die gröbsten Dissonanzen in unserem Stadtbild beseitigen wird, damit Mülheim
nicht zu Müllheim wird. Wenn das keine Lobeshymne wert ist. Die kann ich hier
nicht so klangvoll wie die Wiener Philharmoniker, sondern nur mit etwas
Wortgeklimper, das von Herzen kommt, anstimmen kann. Denn auch dass wissen wir von
Antoine de Saint-Exupery: „Nur mit dem Herzen sieht man gut.“
Dieser Text erschien am 2. Januar 2020 in der NRZ
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