13 reife Herrn, die
meisten sind 68 Jahre alt, feiern im Wasserbahnhof ihr Wiedersehen.
Sie verbindet das Abitur, das sie 1968 an der heutigen
Karr-Ziegler-Schule bestanden haben.
„Wenn, dann war
eher die sexuelle als die politische Befreiung für uns ein Thema“,
schaut Gold-Abiturient Ulrich Mülheims auf das Jahr 1968 zurück.
„Die Röcke wurden kürzer und die Haare wurden länger“,
erinnert sich Klassenkamerad Franz Weimann an den Zeitgeist von 1968.
„Wir waren die
braven Lateiner und wurden mit den wilden Engländern zusammengelegt,
von denen wir dann eine Menge gelernt haben“, berichtet Mülheims.
Als Klassensprecher musste er manches ausbügeln. Das konnte eine
Schwammschlacht oder auch eine Landkarte sein, die aus dem Fenster
hing. Lausbubenstreiche.
Und wo blieb die
Rebellion? „Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie wenig
wir damals selbstständig denken durften. Was wir zu denken hatten,
gab das Elternhaus vor“, erinnert sich Herbert Gleißenberger. „Ich
weiß noch, dass ich damals mit anderen Jugendlichen
Straßenbahnschienen besetzt habe, um mit ihnen gegen
Fahrpreiserhöhungen zu demonstrieren. Später habe ich auch bei
einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg teilgenommen und dabei Ho
Ho Ho Chi Minh gerufen. Das war nicht alles reflektiert, was wir
gemacht haben. Aber wir hatten das Gefühl gegen die verkrusteten
Strukturen und Moralvorstellungen aufstehen zu müssen“, schildert
Weimann das jugendliche Aufbegehren gegen die Eltern-Generation.
Die Deutsch- und
Musikstunden bei Helmut Meyer waren für die 68er Abiturienten von
der Schulstraße eine Offenbarung. „Das war für uns eine neue
Welt. Der Mann hat uns angestiftet und einen Floh ins Ohr gesetzt.
Mit Dantes Rat: ‚Geh deinen Weg und lass die Leute reden‘ hat er
mir mein Lebensmotto mitgegeben“, erzählt Gerd May. Dass der
Oberstudienrat und SPD-Stadtverordnete seine Schüler auch mit
gesellschaftskritischen Autoren, wie Paul Satre, Albert Camus, Hans
Magnus Enzensberger, Heinrich Böll, Uwe Johnson und Günter Grass
vertraut machte und mit ihnen in der Stadthalle eine
Rock-Musical-Inszenierung von Goethes Faust besuchte, brachte einige
Eltern auf die Barrikaden.
„Viele Eltern
haben die damalige Jugend nicht verstanden. Sie sagten: ‚Das wächst
sich aus‘. Und wenn es sich nicht auswuchs, war das für sie der
Untergang des Abendlandes“, erinnert sich Herbert Gleißenberger.
Georg Heinrichs
denkt gerne an Meyers Jazzstunden und an die Schülertreffen in einem
Stehcafe an der Schloßstraße, zurück: „Da konnten wir über
Politik, Literatur und alles andere diskutieren konnten, worüber wir
mit unseren Eltern nicht sprechen konnten.“
Gut weg kommt in den
Erinnerungen der Gold-Abiturienten auch Lateinlehrer Gerd Boeckhorst,
der in seinem Unterricht Parallelen zwischen den Konflikten der
Antike und der Gegenwart aufzeigte. Unvergessen bleibt im kollektiven
Gedächtnis der 68er-Abiturienten, aus denen später Lehrer, Ärzte,
Juristen, Wissenschaftler, Ingenieure, Pädagogen, Altenpfleger und
Unternehmer wurden, auch der Satz ihres Deutschlehrers Meyer: „Wir
müssen den feinen Sand des selbstständigen Denkens in die Lungen
der Mächtigen blasen.“
Doch
Politikunterricht stand 1968 noch nicht auf dem Stundenplan. Der
Geschichtsunterricht endete vor 1933. „Über die Geschichte
zwischen 1933 und 1945 musste ich mich später selbst informieren“,
sagt Franz Weimann. „Ich hatte einen väterlichen Freund, der das
KZ überlebt hatte, und mir viel aus erster Hand berichten konnte.
Ihn habe ich später zu Zeitzeugenseminaren begleitet“, berichtet
Ulrich Mülheims.
Für ihren
ehemaligen Klassenlehrer Hans Wuttke bleiben die Schüler des
Abitur-Jahrgangs 1968 „als eine starke Gemeinschaft“ in
Erinnerung, in der man gemeinsam lernte und sich gegenseitig das
erlernte Wissen vermittelte.“ Zu dieser Gemeinschaft trug auch
Wuttke bei, in dem er eine gemeinsame Alpenwanderung organisierte,
die die Schüler und ihren Lehrer einander näher brachte. „Das war
kein Zugeständnis an den Zeitgeist von 1968, sondern Ausdruck meiner
menschlichen und pädagogischen Überzeugung“, unterstreicht
Wuttke.
1968 war das
städtische Gymnasium, das seit 1974 nach dem am Mülheimer
Max-Planck-Institut für Kohlenforschung wirkenden
Chemie-Nobelpreisträgers Karl Ziegler benannt ist, de facto eine
reine Jungenschule. Dort wurden damals nur drei Mädchen
unterrichtet, die als Quereinsteigerinnen von der Realschule
Stadtmitte zum städtischen Gymnasium kamen. Der gemeinsame
Unterricht für Jungen und Mädchen wurde damals nur am 1966
neugegründeten Gymnsium Broich praktiziert und war
gesellschaftspolitisch noch hoch umstritten. Gymnasiastinnen
besuchten damals in der Regel die Luisenschule, die bis 1973 ein
reines Mädchen-Gymnasium war.
Der Klassenlehrer
der 68er Abiturienten der heutigen Karl-Ziegler-Schule, Hans Wuttke
(Abitur-Jahrgang 1956), leitete ab 1975 das neugegründete Gymnasium
Heißen. Und seine Kollege Helmut Meyer wurde in den 1970er Jahren
Kulturdezernent und 1980 zum Mitgründer des Theaters an der Ruhr.
Dieser Text erschien am 2. Juni 2018 in der Neuen Ruhrzeitung
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