Samstag, 2. Juni 2018

Denk ich an 1968 – Gold-Abiturienten der heutigen Karl-Ziegler-Schule sahen sich im Wasserbahnhof wieder und tauschten ihre Erinnerungen aus

In diesem alten Schulgebäude, das 1970 für einen Neubau
abgerissen wurden, haben die Abiturienten 1968 noch gelernt.
Das Foto aus dem Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
www.stadtarchiv-mh.de zeigt das Schulgebäude des
städtischen Gymnasiums an der Schulstraße im Jahr
1946.

13 reife Herrn, die meisten sind 68 Jahre alt, feiern im Wasserbahnhof ihr Wiedersehen. Sie verbindet das Abitur, das sie 1968 an der heutigen Karr-Ziegler-Schule bestanden haben.

„Wenn, dann war eher die sexuelle als die politische Befreiung für uns ein Thema“, schaut Gold-Abiturient Ulrich Mülheims auf das Jahr 1968 zurück. „Die Röcke wurden kürzer und die Haare wurden länger“, erinnert sich Klassenkamerad Franz Weimann an den Zeitgeist von 1968.

„Wir waren die braven Lateiner und wurden mit den wilden Engländern zusammengelegt, von denen wir dann eine Menge gelernt haben“, berichtet Mülheims. Als Klassensprecher musste er manches ausbügeln. Das konnte eine Schwammschlacht oder auch eine Landkarte sein, die aus dem Fenster hing. Lausbubenstreiche.

Und wo blieb die Rebellion? „Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie wenig wir damals selbstständig denken durften. Was wir zu denken hatten, gab das Elternhaus vor“, erinnert sich Herbert Gleißenberger. „Ich weiß noch, dass ich damals mit anderen Jugendlichen Straßenbahnschienen besetzt habe, um mit ihnen gegen Fahrpreiserhöhungen zu demonstrieren. Später habe ich auch bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg teilgenommen und dabei Ho Ho Ho Chi Minh gerufen. Das war nicht alles reflektiert, was wir gemacht haben. Aber wir hatten das Gefühl gegen die verkrusteten Strukturen und Moralvorstellungen aufstehen zu müssen“, schildert Weimann das jugendliche Aufbegehren gegen die Eltern-Generation.

Die Deutsch- und Musikstunden bei Helmut Meyer waren für die 68er Abiturienten von der Schulstraße eine Offenbarung. „Das war für uns eine neue Welt. Der Mann hat uns angestiftet und einen Floh ins Ohr gesetzt. Mit Dantes Rat: ‚Geh deinen Weg und lass die Leute reden‘ hat er mir mein Lebensmotto mitgegeben“, erzählt Gerd May. Dass der Oberstudienrat und SPD-Stadtverordnete seine Schüler auch mit gesellschaftskritischen Autoren, wie Paul Satre, Albert Camus, Hans Magnus Enzensberger, Heinrich Böll, Uwe Johnson und Günter Grass vertraut machte und mit ihnen in der Stadthalle eine Rock-Musical-Inszenierung von Goethes Faust besuchte, brachte einige Eltern auf die Barrikaden.

„Viele Eltern haben die damalige Jugend nicht verstanden. Sie sagten: ‚Das wächst sich aus‘. Und wenn es sich nicht auswuchs, war das für sie der Untergang des Abendlandes“, erinnert sich Herbert Gleißenberger.

Georg Heinrichs denkt gerne an Meyers Jazzstunden und an die Schülertreffen in einem Stehcafe an der Schloßstraße, zurück: „Da konnten wir über Politik, Literatur und alles andere diskutieren konnten, worüber wir mit unseren Eltern nicht sprechen konnten.“

Gut weg kommt in den Erinnerungen der Gold-Abiturienten auch Lateinlehrer Gerd Boeckhorst, der in seinem Unterricht Parallelen zwischen den Konflikten der Antike und der Gegenwart aufzeigte. Unvergessen bleibt im kollektiven Gedächtnis der 68er-Abiturienten, aus denen später Lehrer, Ärzte, Juristen, Wissenschaftler, Ingenieure, Pädagogen, Altenpfleger und Unternehmer wurden, auch der Satz ihres Deutschlehrers Meyer: „Wir müssen den feinen Sand des selbstständigen Denkens in die Lungen der Mächtigen blasen.“

Doch Politikunterricht stand 1968 noch nicht auf dem Stundenplan. Der Geschichtsunterricht endete vor 1933. „Über die Geschichte zwischen 1933 und 1945 musste ich mich später selbst informieren“, sagt Franz Weimann. „Ich hatte einen väterlichen Freund, der das KZ überlebt hatte, und mir viel aus erster Hand berichten konnte. Ihn habe ich später zu Zeitzeugenseminaren begleitet“, berichtet Ulrich Mülheims.

Für ihren ehemaligen Klassenlehrer Hans Wuttke bleiben die Schüler des Abitur-Jahrgangs 1968 „als eine starke Gemeinschaft“ in Erinnerung, in der man gemeinsam lernte und sich gegenseitig das erlernte Wissen vermittelte.“ Zu dieser Gemeinschaft trug auch Wuttke bei, in dem er eine gemeinsame Alpenwanderung organisierte, die die Schüler und ihren Lehrer einander näher brachte. „Das war kein Zugeständnis an den Zeitgeist von 1968, sondern Ausdruck meiner menschlichen und pädagogischen Überzeugung“, unterstreicht Wuttke.


1968 war das städtische Gymnasium, das seit 1974 nach dem am Mülheimer Max-Planck-Institut für Kohlenforschung wirkenden Chemie-Nobelpreisträgers Karl Ziegler benannt ist, de facto eine reine Jungenschule. Dort wurden damals nur drei Mädchen unterrichtet, die als Quereinsteigerinnen von der Realschule Stadtmitte zum städtischen Gymnasium kamen. Der gemeinsame Unterricht für Jungen und Mädchen wurde damals nur am 1966 neugegründeten Gymnsium Broich praktiziert und war gesellschaftspolitisch noch hoch umstritten. Gymnasiastinnen besuchten damals in der Regel die Luisenschule, die bis 1973 ein reines Mädchen-Gymnasium war.
Der Klassenlehrer der 68er Abiturienten der heutigen Karl-Ziegler-Schule, Hans Wuttke (Abitur-Jahrgang 1956), leitete ab 1975 das neugegründete Gymnasium Heißen. Und seine Kollege Helmut Meyer wurde in den 1970er Jahren Kulturdezernent und 1980 zum Mitgründer des Theaters an der Ruhr.



Dieser Text erschien am 2. Juni 2018 in der Neuen Ruhrzeitung

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