Sonntag, 27. Mai 2018

Zugehört: Sind die Religionen Friedensstifter oder Brandstifter?

Die Religionen machen Schlagzeilen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder lässt in allen Amtsstuben des Freistaates Kreuze aufhängen, um die christliche Leitkultur zu dokumentieren. In Berlin wird ein jüdischer Kipa-Träger von einem Muslim geschlagen. Der selbsternannte Islamische Staat mordet und terrorisiert die Menschheit. Vor diesem Hintergrund griff das WDR-5-Stadtgespräch in der Bürgerhalle der Bezirksregierung die Frage auf: „Kreuz, Kippa und Koran – Wie können die Religionen friedlich zusammenleben?“ Laut WDR-Fakten-Check leben im 18 Millionen Einwohner zählenden  Nordrhein-Westfalen derzeit rund sie sieben Millionen katholische und evangelische Christen, rund 1,5 Millionen Muslime und 26.000 Juden.

Wozu religiöse Intoleranz und Dummheit führen können, machten die Moderatoren der Sendung, Thomas Koch und Holger Beller, mit einer ersten Publikumsrunde deutlich. Da berichtete eine muslimische Grundschullehrerin von einer alten Frau, die ihr im Bus sagte: „Ihr gehört alle vergast.“ Und ein junger Mann aus der jüdischen Gemeinde Münster erinnerte sich an verbale Übergriffe, a la „Scheiß Juden, haut ab!“

Auch Podiumsgast Margarita Voloj-Dessauer von der Jüdischen Gemeinde Münster musste einräumen, dass sie in jüngster Zeit immer öfter negative Reaktionen auf das Tragen eines Schmuckstückes in Form des jüdischen Davidsternes bekommen habe und als jüdische Deutsche oft für die Palästinenser-Politik des Staates Israel verantwortlich gemacht werde.

„Aber es gibt auch viel Positives und daran baue ich mich immer wieder auf“, machte Voloj-Dessauer mit Blick auf interreligiöse Begegnungen und Gespräche in der Münsteraner Synagoge deutlich. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass jüdische Einrichtungen polizeilich geschützt werden müssten und sie deshalb als jüdische „Weltbürgerin leider nicht so offen und vorbehaltlos auf Menschen zugehen kann, wie ich mir das wünschen würde.“ Spontanen Applaus erhielt Voloj-Dessauer, als sie ihre nach dem Zweiten Weltkrieg aus Südamerika nach Deutschland zurückgekehrte Mutter zitierte. „Wir leben in Deutschland, weil Hiltler nicht Recht behalten soll, dass Deutschland judenfrei sei.“
Münsters Weihbischof Dr. Stefan Zekorn wies angesichts des bevorstehenden 101. Katholikentages in Münster darauf hin, dass sich dort 120 Veranstaltungen mit dem Dialog zwischen Christen, Juden und Muslimen beschäftigen werden. Der Weihbischof zeigte sich zuversichtlich, dass Begegnungen und Gespräche beim Katholikentag mit dazu beitragen könnten Vorurteile und Ängste gegenüber der jeweils anderen Kultur und Religion zu überwinden. Zekorn ist davon überzeugt, „dass Religionen in ihrem gemeinsamen Glauben an einen göttlichen Schöpfer, ein großes Potenzial in sich tragen, Frieden zwischen den Menschen zu stiften, wenn sie nicht selbst nach Macht streben oder sich für politisch motivierte Machtinteressen instrumentalisieren lassen.“
Auch abseits von Kirchentagen, ermutigte der Weihbischof nicht nur seine eigenen Landsleute, sondern auch die Menschen in muslimisch geprägten Ländern zu einem Auf- und Ausbau der Begegnungen und Gespräche zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse.

Auf eine entsprechende Anfrage aus dem Publikum, ob Deutschland nicht besser eine klare Trennung von Kirche und Staat vollziehen und wie Frankreich zu einem säkularen Staat werden solle, erwiderte Zekorn, dass die kirchliche Präsenz, etwa als Trägerin von Kindertagesstätten, Schulen, Sozialdiensten und Krankenhäusern, Ausdruck der kulturellen Vielfalt in unserer Demokratie seien.

Die unter Morddrohungen lebende Buchautorin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der französische Säkularismus das westliche Nachbarland auch nicht vor Intoleranz, Fanatismus und politisch oder religiös motivierter Gewalt habe bewahren können. Der Theologe und Journalist Theo Dierkes, der beim WDR-Hörfunk die Religionsredaktion leitet, hält die Idee einer apolitischen Religion, die sich aus der sozialen Wirklichkeit zurückzieht, für illusorisch, weil alle Weltreligionen „durch die göttlichen Gebote von Nächstenliebe und Barmherzigkeit dazu angehalten sind, Politik zu machen und Partei für die Armen und Schwachen einer Gesellschaft zu ergreifen.“ Für Theo Dierkes beginnt der gesellschaftliche und religiöse Frieden dort, „wo wir nicht mehr von den Christen, Juden oder Muslimen sprechen, sondern den einzelnen Menschen betrachten und ihm als Individuum begegnen.“

Lamya Kaddor, die aufgrund akuter Morddrohungen ihren Beruf als islamische Religionslehrerin seit zwei Jahren nicht mehr ausüben kann, und deshalb derzeit als Pädagogin nur in vorbeugenden Bildungsprojekten gegen die Saat des Fanatismus und des Hasses arbeiten kann, sieht es „als eine persönliche Niederlage an“, dass sich fünf ihrer Schüler durch Hassprediger außerhalb der Schule innerhalb eines Jahres so radikalisiert hätten, dass sie als IS-Kämpfer nach Syrien gegangen seien. Aber auch außerhalb der islamischen Gemeinschaft sieht sie in der deutschen Gesellschaft eine zunehmende Intoleranz gegenüber der anderen Meinung und eine mangelnde Wertschätzung für den Frieden. In ihren Augen ist die Integrationsaufgabe, vor der Deutschland steht, „nicht nur eine Bringschuld der Zuwanderer, sondern auch eine Bringschuld der deutschen Ursprungsgesellschaft, die sich verändern muss, damit der Zusammenhalt und der soziale Frieden bewahrt werden können.“

Aus dem Publikum heraus vorgetragene Berichte, etwa über einen Gesprächskreis, zu dem sich christliche, jüdische und muslimische Frauen regelmäßig treffen oder über die positive Resonanz, die zwei junge jüdische Gemeindemitglieder in Münsteraner Schulen finden, wenn sie dort auf Einladung engagierter Religionslehrer über den jüdischen Gemeindealltag berichten, machten am Ende der Sendung Hoffnung darauf, dass die Religionen heute und morgen zu einem friedlichen und vorurteilsfreien Zusammenleben beitragen können.

Dieser Text erschien am 12. Mai 2018 im Neuen Ruhrwort

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