Der
Zeitzeuge Kurt Ludwig Lindgens erinnert sich
„Es
hieße keine Gefühle zu haben, wenn ich das Ende dieser Geschichte der letzten
Mülheimer Gerberei emotional nicht berühren würde, wenn ich mit einem traurigen
Auge auf den Schornstein und die alten Werksgebäude schaue, in denen Generationen
von Mülheimern in unserer Firma und für unsere Familie gelernt, gearbeitet, und
ihren Lebensunterhalt verdient haben. Aber ich sehe es auch mit einem lachenden
Auge, dass Das jetzt veröffentlichte Ergebnis des Mülheimer Architektenwettbewerbs,
dass mich vor stimmt Es ist wirklich schön zu sehen das mithilfe der Mülheimer
Sparkasse und der Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft auf einer alten
Industriebrache eines Tages Menschen wohnen Kinder spielen und die unmittelbare
Nähe des Flusses genießen werden.“, sagt Kurt Ludwig Lindgens, während er auf das
alte Gerberei-Gebäude der Lederfabrik seiner Familie schaut. Ein Teil der
Fabrikgebäude, das Kesselhaus und der alte Schornstein stehen unter
Denkmalschutz und werden deshalb auch als Teil der neuen Wohnraumbebauung auf
dem ehemaligen Gelände der zuletzt von der amerikanischen Firma Seton übernommenen
Lederfabrik Lindgens erhalten bleiben. „Und dort hinten vor den Bäumen und Büschen
Richtung Ruhr“, erzählt Kurt Ludwig Lindgens beim Ortstermin, „befanden sich
nicht nur unsere Brunnen mit ihren unwiderruflichen preußischen Wasser-Rechten
aus dem 19. Jahrhundert. Hier stand auch unsere legendäre Lack-Küche, in der
meine Urgroßmutter Anfang des 20. Jahrhunderts auf Basis eines“Geheim“-Rezeptes
Farben für die Lack-Leder herstellte, die in großen Mengen nach Usbekistan
exportiert wurden; da die moslemischen Religionswächter dort Ihren Gläubigen erlaubten,
in den kalten Winter-Monaten, das Waschen Ihrer Füße vor Betreten der Moschee
zu umgehen; denn die Stiefel aus Lackleder ließen sich perfekt reinigen.“
Für ihn ist es eine Ironie der Geschichte, „dass sich der jetzige Abriss unserer
Produktions-Hallen zeitgleich zu einem Augenblick vollzieht, in dem auch die Tengelmann-Gebäude
nicht mehr genutzt werden.“
So
werden beide Grundstücke zeitgleich einer neuen Nutzung zugeführt werden, nach
dem mein Urgroßvater Ludwig Lindgens und der Tengelmann-Gründer Wilhelm
Schmitz-Scholl eng befreundet und auch wirtschaftlich durch den Gewürzhandel
meines Urgroßvaters miteinander verbunden waren.“
Während
er die Straßenseite wechselt, erzählt Lindgens, dass die Gerber am Kassenberg
früher ihre Lederböcke über die Straße geschoben haben, wo heute der dichte Autoverkehr
fließt.
Kurt
Ludwig Lindgens, der ab 1994 als Geschäftsführer in der von Seton aus New
Jersey übernommenen Lederfabrik Lindgens gearbeitet hat, blättert in einem
alten Fotokalender, den ihm seine Mitarbeiter zum Jahresbeginn 1996 geschenkt
haben. Erinnerungen werden wach. Er schaut zurück in die Wasserwerkstatt, in
der die Lederhäute gereinigt wurde und in deren Modernisierung Seton, sehr zu
seinem Leidwesen, nicht mehr investieren wollte, „weil es damals Mode geworden
war, einzelne Produktionsstufen an externe Dienstleister zu vergeben und damit
auszulagern.“ Er blättert um und sieht auf dem nächsten Monats-Bild zwei
Mitarbeiter, die mit einer Spaltmaschine die Lederhäute von Haaren und
Fleischresten befreien. „Die erste deutsche Spaltmaschine Deutschlands stand 1882
in unserer Gerberei.“, sagt Lindgens. Auf dem nächsten Kalenderblatt sieht er
einen Lederstapler. Auf den hinter fast jeder Spaltmaschine stehenden Staplern
wurden die im Durchschnitt fünf Meter großen Lederhäute zwischengelagert. Nächstes
Blatt, nächstes Bild: Was für den Laien wie eine große Waschmaschine aussieht,
erklärt Kurt Ludwig Lindgens als Gerberfass, in dem bis zu 100 Häute geschleudert
und mit Chemikalien weich gemacht werden konnte. Danach ging es die Klammerei,
in der Lederhäute auf einen hydraulischen Rahmen geklammert wurden, um die Lederhaut,
deren Verkaufspreis nach Quadratmetern bezahlt wurde, maximal zu weiten und anschließend
zum Trocknen in den Klammerofen zu schieben. Auf einem weiteren Kalenderblatt
sieht Lindgens zwei seiner Mitarbeiterinnen, die auf einem großen Tisch die
Ränder der Lederhaut gewissenhaft „frisierten“ und sie so beschnitten, dass sie
von den Kunden glatt und reibungslos weiterverarbeitet werden konnte. Und ehe
die Lederhaut das Werk verlassen konnte, bekam sie, wie Lindgens in seiner
Rückschau auf einem weiteren Kalenderblatt sieht, von einer Stempelmaschine den
Hinweis auf ihre Herkunft, das Markenzeichen Made by Lindgens, verpasst, „damit
unsere Kunden bei Reklamationen sofort wussten, an wen sie sich wenden mussten,“
wie Kurt Ludwig Lindgens mit einem Augenzwinkern feststellt.
„Wir
haben in der Spitze 450 bis 500 Leute beschäftigt. Und ich erinnere mich daran,
dass wir einmal gleich mehrere Zugwaggons gechartert haben um mit 150
Belegschaftsmitgliedern das Mercedes-Sportwagen-Werk in Bremen zu besichtigen,
für das wir Wagenteile mit unserem Leder bespannt haben. Und bei vielen Aufträgen
waren wir auch schneller in Stuttgart bei Daimler Benz vor Ort als unser süddeutscher
Konkurrent, der seinen Firmensitz nur eine halbe Autostunde vom Mercedes-Stammwerk
entfernt hatte. Deshalb wurden wir von unseren Auftraggebern oft gefragt: „Wie
macht ihr das nur“, erzählt Kurt-Ludwig Lindgens nicht ganz ohne Stolz und
unterstreicht mit einer vielsagenden Handbewegung: „Wir waren einfach flotter
und flexibler als die Konkurrenz und hatten die Zug- und Flugpläne immer gleich
zur Hand.“ Vom Internet war damals noch keine Rede. Lindgens kann sich noch an
Zeiten erinnern, „in denen man den Breilöffel nur aus dem Fenster halten musste,
um gutes Geld zu verdienen und Arbeitsplätze in der Lederindustrie zu sichern.“
Warum
verdiente man über Jahrzehnte des späten 19. und fast des gesamten 20.
Jahrhunderts mit der Lederherstellung so viel Geld, wie man es heute nur noch
mit der Herstellung von Computern und Software kann? Kurt-Ludwig Lingens
beantwortet die Frage so: „Die Drehmaschinen August Thyssens kamen ohne Lederriemen
ebenso wenig aus wie die Autoindustrie und die Eisenbahn ohne Lederpolster. Und
auch die Schuh- und Taschenindustrie haben uns über viele Jahre gut verdienen
lassen. Wir profitierten davon, dass die Lederindustrie über viele Jahrzehnte
eine elementare Bedeutung für verschiedene Wirtschaftsbereiche hatte!“ Doch
schon in den 1960er Jahren sah Kurt-Ludwig Lindgens seinen Vater immer öfter
mit Sorgenfalten. „Erst kam die Konkurrenz, die den Mülleimer Leder Fabriken
das Leben schwer machte aus Italien Punkt und später kam sie aus Asien. „Die Lederindustrie
ist zu einem Wanderzirkus geworden“, sagt Lindgens mit dem Blick auf dem
Wettlauf um die preiswerteste Produktionsstätte. „Autohersteller, die heute in
Asien produzieren lässt, erwarten auch von ihrem Lederlieferanten, dass sie
ihre Produktionsstätte gleich nebenan bauen. Hinzu kommt, dass die meisten
Autohersteller heute nur noch Kunstleder in ihren Fahrzeugen verarbeiten“,
schildert er die Entwicklung. Für ihn steht fest: „Eine Renaissance unserer
Leder-Industrie im größeren Umfang wird es nicht geben; so lange die
traditionellen Kunden ihre lohnintensiven Produktionen in Länder mit billigeren
Löhnen verlagert lassen.“
Hintergrund:
Die
Lederfabrik Lindgens Lederwaren Gmbh wurde 1861 von Kurt Ludwig Lindgens‘
Urgroßvater Ludwig Lindgens gegründete und beschäftigte in der Spitze 450 bis
500 Mitarbeiter. 1873 gehörte die Gerberei zu den 16 Mülheimer Gerbereien, die
sich mit ihren Produkten bei der Wiener Weltausstellung präsentierten. Neben
Lindgens entstanden in den Jahren 1861 bis 1918 auch weitere namenhafte
Mülheimer Lederfabriken wie Abel, Feldmann, Hammann, und Möhlenbeck, Rühl und
Funcke. In den 1920er Jahren beschäftigten die damals 52 Mülheimer
Lederfabriken insgesamt 2100 Arbeiter. Damit war Mülheim die Lederhauptstadt
Deutschlands.
In
der ehemaligen Gerberei Abel an der Düsseldorfer Straße 260 hat seit 2003 das
Mülheimer Leder- und Gerbermuseum seinen Sitz, das mittwochs bis sonntags
zwischen 14 und 18 Uhr geöffnet ist. Auf dem ehemaligen 42.000 Quadratmeter
großen Werksgelände von Lindgens möchte die von der Mülheimer Sparkasse und der
Mülheimer Wohnungsbaugenossenschaft getragene Gesellschaft SMW ein Quartier mit
Wohnraum, Gastronomie und Gewerbe errichten. Neben zahlreichen Grün- und
Freiflächen sind drei- bis fünfgeschossige Gebäude geplant.
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