Herr Fehst, was feiern Sie als Wittenberger in Mülheim am Tag der
Deutschen Einheit?
Ich tue mich mit dem Begriff Feiern schwer. Für mich ist es
eher ein Gedenktag, für das was sich mit der Wiedervereinigung auch in meinem
Leben verändert hat und die Chancen, die ich bekommen und genutzt habe. Ich bin
dankbar für meine persönliche Entwicklung und für die Menschen, die mich auf
meinem Weg unterstützt haben.
Wenn Sie wie Heinrich Heine an Deutschland in der Nacht
denken…
….dann bin ich nicht um den Schlaf gebracht, weil ich
glaube, dass Deutschland eine starke Demokratie ist, die trotz aller Probleme
bestehen wird, wenn alle kreativen und gutwilligen Menschen ihre Freiheit
nutzen, um unser Land menschenfreundlich zu gestalten. Aber ich sehe einige
Entwicklungen in unserem Land auch mit großer Sorge.
Welche?
Sowohl in Ostdeutschland als auch hier im Ruhrgebiet sehe
und erlebe ich Menschen, die latent aggressiv sind, weil sie sich als zu kurz
gekommen und als sozial abgehängt erleben und deshalb zum Teil Nationalisten und
Populisten wählen.
Was würden Sie Frau Merkel raten, um die Deutsche Einheit
zu vollenden und die gesellschaftliche Spaltung im wiedervereinigten
Deutschland zu überwinden?
Angela Merkel und die demokratischen Volksparteien dürfen
das Feld nicht der AFD überlassen. Sie müssen gerade zu den Menschen gehen, die
in strukturschwachen Regionen wie im Osten Sachsens oder im Ruhrgebiet leben
und sich ihre Probleme anhören. Nur so können sie ein Gespür dafür bekommen,
was getan werden muss, um die die soziale Spaltung in unserem Land zu
überwinden. Nur wenn die Menschen das Gefühl haben, dass ihre Biografie
respektiert und ihre Probleme gehört werden, werden sie auch wieder Vertrauen
in die Demokratie und ihre Volksparteien gewinnen.
Sind wir 30 Jahre nach dem Mauerfall und 29 Jahre nach
der Wiedervereinigung ein Volk von Jammer-Ossis und Besser-Wessis?
Wir sollten uns auf jeden Fall nicht alle über einen Kam
scheren. Wir müssen anerkennen, dass in den letzten 30 Jahren auch mit Hilfe
von Michail Gorbatschow gut gelaufen ist, dass aber auch vieles falsch gelaufen
ist. Ich habe es in Wittenberg selbst erleben müssen wie wirtschaftlich
leistungsfähige Betriebe von der Treuhandanstalt platt gemacht wurden und viele
Menschen von heute auf morgen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Da gab es
viele Brüche. Die Menschen im Osten Deutschlands, die daran gewohnt waren, vom
Staat rundum versorgt zu werden, hatten keine Zeit sich an den Kapitalismus zu
gewöhnen. Im Westen hat man aber auch viel für den dem Um- und Wiederaufbau im
Osten Deutschlands getan. Man sollte aber auch hier im Westen Deutschlands nicht
vergessen, dass der Solildaritätszuschlag für den Aufbau Ost von allen
Deutschen gezahlt worden ist.
Was bleibt für Sie auf der Haben-Seite der Deutschen
Einheit?
Die Freiheit für alle Deutschen, zu reisen, angstfrei ihre
Meinung zu sagen und zwischen politischen Alternativen wählen zu können. Eine
Ironie der Geschichte ist es in meinen Augen, dass man die flächendeckende Versorgung
mit Kindertagesstätten-Plätzen und die steuerfinanzierte medizinische
Grundversorgung durch Polykliniken wie es sie in der ehemaligen DDR gab, nach
der Wiedervereinigung abgeschafft hat und heute in Form von Kindertagesstätten
und Ärztehäusern wieder neu erfunden hat.
Zur Person: Michael Fehst wurde 1964 in Wittenberg
geboren. Dort arbeitete er in seinem ersten Berufsleben als Koch in einem
Seniorenheim. Entgegen seiner ursprünglichen Lebensplanung ging er 1998 ins
Ruhrgebiet, „weil es in meinem alten Beruf für mich nicht weiterging und ich feststeckte
und ich sicher unglücklich geworden wäre, wenn ich damals nicht den Aufbruch in
ein neues Berufsleben als Buchhändler gewagt hätte.“ Nach seiner zweiten
Berufsausbildung in einer Essener Buchhandlung und einer anschließenden
Buchhändlertätigkeit im Angestelltenverhältnis, wagte er 2010 mit seiner
Buchhandlung am Löhberg 4 den Sprung in die berufliche Selbstständigkeit und
hat dies bisher nicht bereut.
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