Dienstag, 1. Oktober 2019

Denk mal an Tersteegen

„Das klingt doch eher langweilig“, fand eine Kollegin. Trotzdem ging ich hin zum Vortrag über Gerhard Tersteegen, den der Mülheimer Theologe Ulrich Kellermann in der Buchhandlung Fehst am Löhberg hielt. Als Historiker habe ich eine Schwäche für Vergangenes, weil es uns oft etwas Erhellendes über unsere Gegenwart erzählt. Auch wenn der theologische Schriftsteller, Prediger, Menschenfreund und Naturheilkundler schon vor 250 Jahren das Zeitliche gesegnet hat, enttäuschte er mich nicht. Denn ich erfuhr mit anderen Zeitreisenden, die den Weg zur Buchhandlung am Löhberg gefunden hatten, dass sich die Mülheimer zu hunderten lieber die Predigten des spirituell inspirierten und inspirierenden theologischen Autodidakten als die Predigten seiner akademisch ausgebildeten und amtlich bestallten Kollegen im Pfarramt hörten. Kein Wunder, dass sich Tersteegen, der seinen Glauben mit dem wunderschönen Gedicht-Vers: „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus Christus offenbart“ auf den Punkt gebracht hat, punkt um den heiligen Zorn alle jener Gottesmänner zuzog, die für sich in Anspruch nahmen, von Amts wegen Jesus von Nazareth nachzufolgen. Mich erinnerte dies an die Kirchenkrise unserer Tage, in der oft zu viel über Ämter, Strukturen, Geld, Macht und Dogmen und zu wenig über den christlichen Glauben und die erlösende Kraft der Frohen Botschaft in unserem ganz irdischen und an Baustellen reichem Alltag geredet und, siehe Tersteegen. vorgelebt wird. Dann würde das Christentum vielleicht auch wieder mehr Menschen begeistern und inspirieren, weil seine Verkünder, frei nach dem Philosophen und Religionskritiker Friedrich Nietzsche erlöster aussähen und handelten. 

Dieser Text erschien am 1. Oktober 2019 in der NRZ

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