Samstag, 29. Juni 2019

Was der Versailler Vertrag für Mülheim bedeutete


Das Freikorps Schulz auf der Schloßbrücke
Foto: Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr
28. Juni 1919: Mit den Friedensvertrag von Versailles endet der Erste Weltkrieg. 9 Millionen Soldaten sind an seinem Fronten gefallen. 3.500 von ihnen kamen aus Mühlheim. Wie der furchtbare Krieg, so hat auch der für den Kriegsverlierer Deutschland harte Frieden unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der damals rund 125.000 Mülheimer.

Die Mülheimer Zeitung, die den Kaiseradler durch das Stadtwappen ersetzt hat, schreibt am Tag nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages: „Liebe Mülheimer Burger! Unser Volk ist hart geprüft. Es scheint, als müssten wir alles auskosten, was bitter und gallig schmeckt. Die Tiefen bleiben uns nicht erspart. Doch da wollen wir nicht klagen und verzweifeln, sondern der kalten, hasserfüllten Welt sagen: Wir wagen zu hoffen. Was uns trennt, das lasst uns beiseite tun und zusammenfügen. Das tut uns Not. Die Zukunft ist schwarz. Aber sie wird nicht verzweifelt sein, wenn wir uns im Weltenspiegel suchen und erforschen, was uns die Not als Lehrmeisterin zu sagen hat.“  Fünf Jahre zuvor hatte die Mülheimer Zeitung in ihrer Ausgabe vom 2. August 1914 mit der Schlagzeile aufgemacht: „Mit Gott für Kaiser und Reich! Der Herr segne die deutschen Waffen!“ Doch der Kaiser hat im November 1918 abgedankt. Deutschland ist jetzt Republik. Es muss sein Heer auf 100.000 Soldaten reduzieren und ein Großteil seiner Waffen abgeben. Das sorgt in Mülheim, das seit 20 Jahren Garnisonsstadt ist, für Krisenstimmung. Einige der in der Kaserne an der Kaiserstraße stationierten Soldaten wollen nicht wahrhaben, dass sich die Zeiten ändern. Ihr Kommandeur Siegfried Schulz sammelt 1.000 Soldaten unter seinem Kommando und bildet das Freikorps Schulz. Wie ihr Kommandeur, lehnen auch seine Soldaten die neue Republik ab. Deren Regierung besteht in ihren Augen aus „Novemberverbrechern“, die mit der Revolution im November 1918 „der im Felde unbesiegten“ deutschen Armee mit einem „Dolchstoß in den Rücken gefallen“ seien. Die „Dolchstoßlegende“, mit der vor allem die Deutschnationale Volkspartei auf Stimmenfang geht, hat mit den Fakten des Kriegsendes nichts zu tun, Heute würde man von Fake News sprechen. Im Jahr nach dem Friedensvertrag von Versailles tobt auch in Mülheim ein blutiger Ruhrkampf. In der Roten Ruhrarmee bewaffnen sich linke Arbeiter, um einen rechtsextremen Putsch gegen die junge Republik abzuwehren und die Republik gleichzeitig in ihrem sozialistischen Sinne umzugestalten. Dafür steht 1919 auch der Mülheimer Arbeiter- und Soldatenrat.

Bei der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung stimmen 1919 fast 9 Prozent der Mülheimer für die deutschnationalen Volkspartei, die die neue Republik ablehnt und ihren alten Kaiser Wilhelm II. wiederhaben will. Doch Wilhelm bleibt in Holland und ausgerechnet der als „Gewerkschaftsfresser“ verschriene Mülheimer Industrielle Hugo Stinnes handelt als Vertreter der deutschen Arbeitgebern mit den Führern der Arbeiterschaft ein Abkommen aus, das den Achtstundentag und die Tarifautonomie der Arbeitgeber und Arbeitnehmer einführt.

Die Zeit, in der Gewerkschaften illegal waren, ist ebenso vorbei wie die Zeit, in der nur Männer wählen durften. 1919 dürfen erstmals auch die Mülheimerinnen wählen und gewählt werden. 37.000 der damals 75.000 Mülheimer Wähler sind vor 100 Jahren Erstwählerin. Drei von ihnen, die Lehrerin Maria Büßemeyer, die Mutter und Soldatenwitwe Luise Blumberg und die Hausfrau Katharina Havermann zogen für die katholische Zentrumspartei und die liberale Deutsche Volkspartei als erste Frauen ins Stadtparlament ein. Schon damals war die Frauenquote im Stadtrat ausbaufähig, saßen doch mit den drei Ratsfrauen 1919 69 Ratsherrn im Stadtparlament.

Über alle Parteigrenzen hinweg waren sich die Mülheimer vor 100 Jahren einig, dass die im Versailler Friedensvertrag festgeschriebenen Reparationen ungerecht und zu hoch waren. Von einem „Diktat“ der Siegermächte war die Rede. 1923 marschierten französische Truppen auch in Mülheim ein, um dafür zu sorgen, dass Deutschland im Rahmen seiner Reparationen aus genug Ruhrkohle lieferte. Bis 1925 blieben die französischen Soldaten als Besatzer in Mülheim. Der Widerstand gegen die Vollstrecker der harten Friedensbedingungen von 1919 einte die Bürgerschaft, ruinierte aber auch Wirtschaft und Währung. Mit der Hyperinflation verloren die Mülheimer ihre Ersparnisse und die vom Oberbürgermeister Paul Lembke geführte Stadtverwaltung ließ eigenes Mülheimer Notgeld drucken, um den Zahlungs- und Investitionsverpflichtungen nachzukommen.

Es waren die Verwerfungen, die der Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 und die sozialen Folgen der 1929 Weltwirtschaftskrise, auf deren Höhepunkt 1932 6 Millionen Deutsche, darunter 17.000 Mülheimer arbeitslos waren, die der in Mülheim 1925 gegründeten NSDAP und der mit ihre verbündeten Deutschnationalen 

Geschichte auf dem Straßenschild


Die Konflikte, die auch die Mülheimer Stadtgesellschaft nach dem umstrittenen Friedensvertrag von Versailles spalteten, lassen sich im Mülheimer Stadtbild ablesen. Die heutige Friedrich-Ebert-Straße hieß bis 1949 Hindenburgstraße, benannt nach Eberts Nachfolger im Reichspräsidentenamt. Die Ratsmehrheit der Nationalsozialisten und der Deutschnationalen kürten Hindenburg und den von ihm zum Reichskanzler ernannten Adolf Hitler 1933 zu Mülheimer Ehrenbürgern. Stand der Sozialdemokrat Ebert für die Demokratie von Weimar, so repräsentierte der einstige Generalfeldmarschall als „Held von Tannenberg“ und als „Ersatzkaiser“ das 1918 untergegangene Kaiserreich. Er gehörte aber als ein geistiger Vater der Dolchstoßlegende zu den Totengräbern der Weimarer Demokratie, deren Verfassung er als Reichspräsident mit seinen Notverordnungen aushebelte.


Dieser Text erschien am 28. Juni 2019 in NRZ & WAZ

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