Sonntag, 23. Juni 2019

Mal ganz privat

„Was machen Sie?“ Diese Frage gehört zu den klassischen Gesprächseröffnungen, wenn man sich kennen lernen will.

Nun könnte man es sich mit der Antwort auf diese Frage leicht machen und das naheliegendste sagen, nämlich das, was man eben so macht. „Ich lebe. Ich sitze hier mit Ihnen am Tisch und trinke eine Tasse Kaffee. Ich wohne in Mülheim.“ Doch damit wollen sich die meisten Zeitgenossen nicht zufrieden geben. Sie wollen wissen, was man beruflich macht. Wer auf diese Frage antwortet: „Ich bin arbeitslos!“ oder: „Ich bin Rentner!“ oder: „Ich bin Hausfrau und Mutter!“ wird von seinem Gesprächspartner ein: „Ach so. Sie machen also im Moment nichts!“, garniert mit einem mitleidigen Lächeln zu hören und zu sehen bekommen.

Wer hierzulande etwas gelten will, der kann nicht machen, was er will. Er muss was aus sich machen, koste es was es wolle. Rentner, Arbeitslose oder Hausfrauen und Mütter können noch so viel machen und rund um die Uhr an sich und für andere arbeiten. Das macht in den Augen ihrer Mitmenschen gar nichts. Wer etwas hermachen will, der muss schon was auf seiner Visitenkarte stehen haben, zum Beispiel: Rechtsanwalt, Diplom-Ingenieur, Arzt, Manager oder zur Not auch Unternehmens- oder Steuerberater. So eine elegante Berufsbezeichnung beflügelt die Phantasie des Gegenübers auf den ersten Blick und steigert das eigene Prestige.

Ob man mit dem, was man beruflich macht, erfolgreich oder erfolglos ist, also ob wirklich Gold ist, was da glänzt, spielt zumindest auf den ersten Blick keine Rolle. Die protestantische Arbeitsethik, die unseren Wert mit dem Sozialprestige unseres Berufes und unserer vermeintlichen Arbeitsleistung bemisst, hat sich tief in unseren Seelen verankert, auch wenn wir vielleicht katholisch oder Gott weiß was sind.

Deshalb beeindruckte mich jetzt ein Gesprächspartner, der mir seine Visitenkarte mit der Berufsbezeichnung Privatier überreichte. Privatier. Das hört sich doch viel mondäner an als Rentner. Was mir aber an dem Begriff besonders gut gefällt, ist die selbstbestimmte Definition der Persönlichkeit, die dahinter steht und die ihrem Gegenüber klar macht. Ich brauche keine Berufsbezeichnung, um meine Biografie und mein Selbstbewusstsein zu rechtfertigen und zur Schau zu tragen. Ich bin mir als Mensch selbst genug wert. Ich brauche kein Image, weil ich bin, was ich bin. Und was ich tue oder lasse, ist meine Privatsache, solange ich damit nicht meinem Nächsten schade. Vielleicht sollten wir ja alle Privatiers sein, wenn nicht auf der Visitenkarte, dann zumindest im Geiste und im richtigen Leben.

Dieser Text erschien am 22. Juni 2019 in der Neuen Ruhrzeitung 


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