Dienstag, 18. Juni 2013

Was unsere Kinder brauchen und was sie (und uns alle) krank macht: Ein Gespräch mit den beiden Mülheimer Kinderärzten Ulrike Breckling und Jürgen Hower

Der Arzneimittelreport der Barmer Ersatzkasse schlägt Alarm. Er wirft Ärzten vor, Kindern und Jugendlichen zu schnell Psychopharmaka zu verschreiben, obwohl dies nicht immer medizinisch notwendig sei. Laut Barmer wurden 2012 41 Prozent mehr Neuroleptika für Kinder und Jugendliche verschrieben als noch 2005.


Die beiden Kinderärzte Jürgen Hower (69) und Ulrike Breckling (44) bestätigen, dass sie in ihrer Praxis immer öfter mit psychisch auffälligen Kindern zu tun haben. „Als ich 1976 meine Praxis eröffnet habe, kamen vielleicht fünf Prozent meiner Patienten mit psychischen und psychosomatischen Problemen zu mir. Heute sind es schon 30 Prozent“, beschreibt Hower die Entwicklung. Seine Kollegin will sich zwar auf keine Zahl festlegen, sieht aber auch eine Zunahme des Problems. Beide Ärzte räumen ein, dass sie es bei der geistigen und seelischen Gesundheit mit Symptomen zu tun haben, bei denen die Grenzen zwischen normaler Verstimmung oder Charaktereigenschaft und manifester psychischer Erkrankung fließend sein können. Sie denken dabei etwa an Bauch- und Magenschmerzen, Schulverweigerung, Konzentrationsschwäche, Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, Selbstverletzung, Angst und Aggression.

Hower spricht von einer „Sozial- und Umweltdiagnose“ und stellt fest: „Bei der geistigen Gesundheit geht es auch um die Frage: Was ist eine Gesellschaft bereit, noch als normal zu akzeptieren und was nicht?“ Breckling und Hower sind sich einig, dass die Zunahme psychischer und psychosomatischer Krankheitssymptome vor allem soziale Ursachen hat. „Der Leistungs- und Erwartungsdruck ist enorm. Kinder sollen vor allem Abitur und Karriere machen. Sie sollen funktionieren und haben oft ein volles Programm. Aber sie dürfen kaum noch Kinder sein. Das ist keine gute Entwicklung“, kritisiert Hower.

Und seine Kollegin weiß aus ihrer Praxis: „Die Masse der Kinder leidet unter der Schulzeitverkürzung. Es bleibt ihnen heute zu wenig Zeit für Bewegung, Sport und Begegnung mit Freunden, die einen Ausgleich zum Lernen schaffen. Und wenn ein Kind in der Schule nicht mehr mitkommt, wird als erstes der Sport gestrichen.“

Breckling hat sich unter anderem auf die Behandlung von Kindern spezialisiert, die unter einem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) leiden, bei dem Methylphenhydat verschrieben wird. Aber sie räumt ein, dass die Diagnose dieser hirnorganischen Störung, die auf den Mangel bestimmter Botenstoffe im Gehirn zurückzuführen ist, sehr komplex und langwierig ist und nur mit kinder- und jugendpsychiatrischer Unterstützung sowie der Befragung von Eltern und Lehrern möglich ist. Hierfür werden unter anderem Fragebögen mit solchen oder ähnlichen Fragen eingesetzt, wie sie im Kasten aufgeführt sind.

Dabei ist sich Breckling der Gratwanderung zwischen Psychosomatik und tatsächlicher Erkrankung bewusst. „Ich war da früher viel großzügiger, bin aber jetzt sehr zurückhaltend geworden“, sagt ihr Kollege Hower über seine Verschreibungspraxis bei Psychopharmaka. Wie seine Kollegin verschreibt er nur noch sehr restriktiv, gezielt und zeitlich befristet und setzt vor allem auf die heilende Wirkung des Gesprächs. Breckling hat auch gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Entspannungstechniken gemacht. Beide Kinderärzte warnen aber auch davor, Psychopharmaka grundsätzlich zu verteufeln.

Aus Howers Sicht sind die meisten psychischen Störungen bei Kindern auf die Überforderung in der Schule zurückzuführen. Deshalb bespricht er mit Eltern oft die Frage, ob ein Schul- oder Schulformwechsel nicht die Lösung des Problems sein könnte. „Nicht alle Kinder sind in einem bestimmten Alter gleich und deshalb muss man auch jedem Kind seine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit zugestehen“, betont er. Doch nicht nur Schulstress und überzogene Elternerwartungen, sondern auch die soziale Unsicherheit und fehlende emotionale Geborgenheit in einer schnelllebigen und zunehmend urbanen Umwelt machen Kinder aus seiner Sicht krank: „Da kommt keine Ruhe rein.“

Dieser Text erschien am 13. Juni 2013 in der Neuen Ruhr Zeitung



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