Warum sind so extrem viele Wähler unentschieden, wenn sie
wählen sollen, obwohl noch nie so viele Parteien und Bündnisse, wie vor dieser
Kommunalwahl am 25. Mai um ihre Stimme werben? Diese vom Bürgerbarometer
aufgeworfene und für die Demokratie existenzielle Frage besprach ich für die NRZ mit
dem Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitutes Forsa, Manfred
Güllner.
Wissen die Wähler nicht mehr, was sie wollen?
Dass 30 bis 50 Prozent der Bürger auch relativ kurz vor der
Wahl sagen, dass sie nicht wissen, wen sie wählen sollen, ist heute nicht
ungewöhnlich. Viele wollen sich bis zuletzt eine Hintertürchen offenhalten,
auch wenn sie schon wissen, wen sie wahrscheinlich wählen werden. Es könnte ja
sein, dass die Oberbürgermeisterin kurz vor der Wahl mit der Stadtkasse
durchbrennt.
Ist die Unentschiedenheit der Wähler reine Taktik und
Täuschung?
Nein. Das hat mit dem Verlust von Vertrauen in die Politik
zu tun. In Mülheim haben Sie dafür ein großartiges Beispiel. Nach dem die
damalige Oberbürgermeisterin Eleonore Güllenstern 1994 zurücktrat und die SPD
ihre absolute Mehrheit verloren hat, ist die Bindekraft der großen Parteien
zurückgegangen und die Zahl der Nichtwähler angestiegen.
Liegen die Gründe für den Vertrauensverlust nicht tiefer?
Das Problem ist, dass in den Rathäusern oft große Politik
gespielt und ideologisch motiviert miteinander gestritten wird. Das wollen die
Bürger aber nicht. Sie erwarten von der Kommunalpolitik, dass sie an einem
Strang zieht und Standortentscheidungen von Verkehrsberuhigung bis Parkgebühren
trifft, die die Bürger sofort in ihrem Alltag positiv spüren. Hinzu kommt, dass
Kommunalpolitiker sich oft an Minderheitenthemen orientieren, die vermeintlich
Mehrheitsthemen sind, weil sie von selbst ernannten und öffentlich auftretenden
Advokaten dazu gemacht werden. Außerdem fördern Kommunalpolitiker oft
Großprojekt, die kein Bürger braucht. In Nordrhein-Westfalen ist auch die
Abschaffung der bewährten Doppelspitze aus ehrenamtlichem Stadtoberhaupt und
hauptamtlichem Verwaltungschef ein Grund für den zunehmenden Vertrauensverlust.
Das hat zum Teil fatale Folgen gehabt.
Warum?
Nicht jeder Verwaltungschef kann gut mit Bürgern umgehen.
Früher hatte man einen Oberbürgermeister, der als Stadtoberhaupt und Vorsitzender
des Rates ein wichtiges Scharnier zwischen Bürgern und Verwaltung war. Und man
hatte einen Oberstadtdirektor, der die Verwaltung im Griff hatte. Diese
Doppelspitze fehlt heute. Da sind viele gute Leute auf der Strecke geblieben .
Das politische Personal ist schwächer geworden und viele Oberbürgermeister sind
mit ihrer Doppelrolle überfordert.
Ist die klassische Unterscheidung von Stamm- und
Wechselwählern angesichts so vieler unentschlossener Wähler noch zutreffend?
Wir haben heute nur noch eine kleine Gruppe von Kernwählern,
die aus alter Loyalität ihre Partei wählen. Vor allem die 60- bis 70-Jährigen
sind treue Wähler, die noch ihre alten Bindungen haben. Und wir wissen, dass
etwa 70 Prozent der Bürger, die bei einer Wahl eine Partei gewählt haben, diese
auch bei der nächsten Wahl wählen. Wir haben es heute aber auch mit einer
zunehmenden Zahl von sporadischen oder dauerhaften Nichtwählern zu tun, die
sagen: „Ich möchte wählen, kann es aber nicht, weil mir das politische Angebot,
was ich habe, nicht gefällt.“
Bei der Kommunalwahl 2009 gab es in Mülheim einen
Minusrekord. Nur 51,9 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Wahlrecht
Gebrauch. Wie kann Kommunalpolitik 48,9 Prozent Nichtwähler zurückgewinnen?
Parteien und ihre Kommunalpolitiker müssen sich fragen: Wer
sind die Nichtwähler? Sie müssen zu den Menschen gehen und ihnen zuhören. Denn
gerade in den sozial benachteiligten Stadtteilen ist die Zahl der Nichtwähler
höher als in den bürgerlichen Stadtteilen, weil gerade dort viele Menschen das
Gefühl haben: Die Politiker haben kein Ohr für unsere Sorgen und verharmlosen
vieles. Sie nehmen uns nicht mehr ernst.
Der 1941 in Remscheid geborene Soziologe Manfred Güllner
gründete 1984 in Köln Das Meinungsforschungsinstitut Forsa, eine Gesellschaft
mit beschränkter Haftung, die sich mit Sozialforschung und statistischen
Analysen beschäftigt. Über 80 fest angestellte Mitarbeiter und 1200
freiberufliche Interviewer erheben für Forsa nicht nur Daten, die für die
Politik- und Wahl,- sondern auch für die Sozial,- Medien- und Marktforschung
relevant sind. Hauptsitz des Unternehmens ist heute Berlin. Darüber hinaus gibt
es Niederlassungen in Dortmund und Frankfurt am Main. Weitere Informationen
gibt es im Internet unter: www.forsa.de.
Dieser Text erschien am 15. Mai 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung
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