Dienstag, 27. Mai 2014

Der unentschiedene Bürger: Warum immer mehr Wähler zu Nichtwählern werden: Ein Gespräch mit dem Meinungsforscher Manfred Güllner


Warum sind so extrem viele Wähler unentschieden, wenn sie wählen sollen, obwohl noch nie so viele Parteien und Bündnisse, wie vor dieser Kommunalwahl am 25. Mai um ihre Stimme werben? Diese vom Bürgerbarometer aufgeworfene und für die Demokratie existenzielle Frage besprach ich für die NRZ mit dem Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitutes Forsa, Manfred Güllner.

Wissen die Wähler nicht mehr, was sie wollen?

Dass 30 bis 50 Prozent der Bürger auch relativ kurz vor der Wahl sagen, dass sie nicht wissen, wen sie wählen sollen, ist heute nicht ungewöhnlich. Viele wollen sich bis zuletzt eine Hintertürchen offenhalten, auch wenn sie schon wissen, wen sie wahrscheinlich wählen werden. Es könnte ja sein, dass die Oberbürgermeisterin kurz vor der Wahl mit der Stadtkasse durchbrennt.

Ist die Unentschiedenheit der Wähler reine Taktik und Täuschung?

Nein. Das hat mit dem Verlust von Vertrauen in die Politik zu tun. In Mülheim haben Sie dafür ein großartiges Beispiel. Nach dem die damalige Oberbürgermeisterin Eleonore Güllenstern 1994 zurücktrat und die SPD ihre absolute Mehrheit verloren hat, ist die Bindekraft der großen Parteien zurückgegangen und die Zahl der Nichtwähler angestiegen.

Liegen die Gründe für den Vertrauensverlust nicht tiefer?

Das Problem ist, dass in den Rathäusern oft große Politik gespielt und ideologisch motiviert miteinander gestritten wird. Das wollen die Bürger aber nicht. Sie erwarten von der Kommunalpolitik, dass sie an einem Strang zieht und Standortentscheidungen von Verkehrsberuhigung bis Parkgebühren trifft, die die Bürger sofort in ihrem Alltag positiv spüren. Hinzu kommt, dass Kommunalpolitiker sich oft an Minderheitenthemen orientieren, die vermeintlich Mehrheitsthemen sind, weil sie von selbst ernannten und öffentlich auftretenden Advokaten dazu gemacht werden. Außerdem fördern Kommunalpolitiker oft Großprojekt, die kein Bürger braucht. In Nordrhein-Westfalen ist auch die Abschaffung der bewährten Doppelspitze aus ehrenamtlichem Stadtoberhaupt und hauptamtlichem Verwaltungschef ein Grund für den zunehmenden Vertrauensverlust. Das hat zum Teil fatale Folgen gehabt.

Warum?

Nicht jeder Verwaltungschef kann gut mit Bürgern umgehen. Früher hatte man einen Oberbürgermeister, der als Stadtoberhaupt und Vorsitzender des Rates ein wichtiges Scharnier zwischen Bürgern und Verwaltung war. Und man hatte einen Oberstadtdirektor, der die Verwaltung im Griff hatte. Diese Doppelspitze fehlt heute. Da sind viele gute Leute auf der Strecke geblieben . Das politische Personal ist schwächer geworden und viele Oberbürgermeister sind mit ihrer Doppelrolle überfordert.

Ist die klassische Unterscheidung von Stamm- und Wechselwählern angesichts so vieler unentschlossener Wähler noch zutreffend?

Wir haben heute nur noch eine kleine Gruppe von Kernwählern, die aus alter Loyalität ihre Partei wählen. Vor allem die 60- bis 70-Jährigen sind treue Wähler, die noch ihre alten Bindungen haben. Und wir wissen, dass etwa 70 Prozent der Bürger, die bei einer Wahl eine Partei gewählt haben, diese auch bei der nächsten Wahl wählen. Wir haben es heute aber auch mit einer zunehmenden Zahl von sporadischen oder dauerhaften Nichtwählern zu tun, die sagen: „Ich möchte wählen, kann es aber nicht, weil mir das politische Angebot, was ich habe, nicht gefällt.“

Bei der Kommunalwahl 2009 gab es in Mülheim einen Minusrekord. Nur 51,9 Prozent der Wahlberechtigten machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Wie kann Kommunalpolitik 48,9 Prozent Nichtwähler zurückgewinnen?

Parteien und ihre Kommunalpolitiker müssen sich fragen: Wer sind die Nichtwähler? Sie müssen zu den Menschen gehen und ihnen zuhören. Denn gerade in den sozial benachteiligten Stadtteilen ist die Zahl der Nichtwähler höher als in den bürgerlichen Stadtteilen, weil gerade dort viele Menschen das Gefühl haben: Die Politiker haben kein Ohr für unsere Sorgen und verharmlosen vieles. Sie nehmen uns nicht mehr ernst.

Der 1941 in Remscheid geborene Soziologe Manfred Güllner gründete 1984 in Köln Das Meinungsforschungsinstitut Forsa, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die sich mit Sozialforschung und statistischen Analysen beschäftigt. Über 80 fest angestellte Mitarbeiter und 1200 freiberufliche Interviewer erheben für Forsa nicht nur Daten, die für die Politik- und Wahl,- sondern auch für die Sozial,- Medien- und Marktforschung relevant sind. Hauptsitz des Unternehmens ist heute Berlin. Darüber hinaus gibt es Niederlassungen in Dortmund und Frankfurt am Main. Weitere Informationen gibt es im Internet unter: www.forsa.de.
 
Dieser Text erschien am 15. Mai 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung 

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