Sonntag, 9. März 2014

Niemand darf behindert werden: Nicht nur beim Thema Bauen und Wohnen pldäiert die neue Behindertenkoordinatorin der Stadt, Inge Lantermann, für mehr Barrierefreiheit

Eine psychisch kranke Frau sucht eine neue Wohnung. Das St. Marien-Hospital und eine Kindertagesstätte am Kuhlendahl möchten wissen, ob ihre Baupläne die seit 2003 geltenden Vorschriften für Barrierefreiheit entsprechen. Ein Mann will wissen, wo und wie er zu einem Schwerbehindertenausweis kommt. Und eine Frau, die vor einem Bewerbungsgespräch steht, bittet um Rat, ob und wie sie im Gespräch mit ihrem künftigen Arbeitgeber ihre rheumatische Erkrankung thematisieren soll. Gehörlose Eltern brauchen einen Gebärdendolmetscher, um sich mit dem Arzt ihres Kindes verständigen zu können. Die Mülheimer Verkehrsgesellschaft fragt im Zusammenhang mit dem barrierefreien Umbau einer U-Bahn-Haltestelle nach geeigneten taktilen Leitsystemen für Blinde und Sehbehinderte.

Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich Inge Lantermann als Behindertenkoordinatorin der Stadt. Obwohl sie ihre neue Stelle bereits im November angetreten hat, sieht sie sich selbst noch in der Einarbeitungsphase. „Dort, wo ich Leuten nicht auf Anhieb weiterhelfen kann, weiß ich aber, wo sie Spezialistenrat finden können“, berichtet Lantermann. Ausgerechnet bei der sehr anspruchsvollen Prüfung von Bauplänen brauchte sie keine Einarbeitungszeit. „Denn ich habe ein gutes technisches Verständnis und habe das Lesen von Bauplänen schon bei der Wohnberatung von Senioren gelernt.“

Immer wieder trifft sie in ihrem neuen Arbeitsbereich auf Schnittstellen mit ihrem beruflichen Vorleben in der Seniorenberatung, wenn es zum Beispiel um barrierefreies Wohnen im Alter geht. „Gerade die großen Wohnungsbaugesellschaften MWB, SWB und Immeo haben inzwischen erkannt, dass sie davon profitieren, wenn sie ihre Wohnungen barrierefrei umbauen und damit alte und zuverlässige Mieter behalten können. Allerdings fehlt es in der Stadt immer noch an einem ausreichenden Angebot barrierefreier und auch bezahlbarer Wohnungen“, schildert Lantermann ihren Eindruck. Mit Sorge sieht sie deshalb in die Zukunft, wenn die Generation der in den 60er Jahren geborenen Babyboomer in Rente gehen wird und aufgrund ihrer zum Teil brüchigen und prekären Berufsbiografien mit kleinen Renten auskommen muss.

Nicht nur mit Blick auf den demografischen Wandel einer Stadtgesellschaft, in der schon heute jeder Dritte über 60 ist, ist Behinderung für Lantermann kein Randthema. Sie weist darauf hin, dass rund 30000 der aktuell etwa 166000 Mülheimer als schwerbehindert gelten. Die Bandbreite der Behinderungen reicht von der geistigen und körperlichen Behinderung bis zur psychischen Erkrankung. „Menschen mit Behinderung sind weniger behindert, als das sie oft behindert werden. Wir sollten nicht auf ihre Defizite, sondern auf die Möglichkeiten und Fähigkeiten schauen“, rät Lantermann.

In der Zusammenarbeit mit der Fürsorgestelle des Sozialamtes, die schwerbehinderte Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber in Fragen rund um die Intergrationshilfen am Arbeitsplatz berät, stellt Lantermann immer wieder fest,“dass Arbeitgeber sehr wohl bereit sind, Menschen mit Behinderung einzustellen, wenn sie sehen, dass die Bewerber mit Handicap mit einer Hilfestellung in der Lage sind ihren Arbeitsplatz auszufüllen.“

Auch mit Blick auf die Checkliste für barrierefreies Bauen, sieht Lantermann, dass man bei Neubauten mit einem Mehraufwand von zwei bis drei Prozent dafür sorgen kann, dass Zugangsbarrieren beseitigt und Behinderte nicht behindert werden.

Sie denkt dabei zum Beispiel an Türen, die auch für Rollstuhlfahrer breit genug sind, an akustische Etagenansagen im Aufzug, die Blinden ebenso die Orientierung erleichtern, wie taktile Wegweiser oder Hinweisschilder, die groß genug beschriftet sind, um auch von Sehbehinderten gelesen werden zu können. Auch Haltegriffe und von Rollstuhlnutzern unterfahrbare Waschbecken in Toiletten oder von Rollstuhlfahrern in Sitzhöhe erreichbare Bedienungselemente im Aufzug können für Barrierefreiheit im Bau sorgen. Deshalb würde Lantermann nicht nur öffentliche, sondern auch private Bauherren gerne beraten, um rechtzeitig und damit kostensparend an Barrierefreiheit zu denken. „Gerade der Umgang mit Architekten in dieser Frage manchmal schwierig, weil sie Individualisten sind und ihre ganz eigenen Vorstellungen haben“, weiß Lantermann.

Barrierefreiheit und Teilhabe von Menschen mit Handicap entscheidet sich für Lantermann aber nicht nur am Bau, sondern auch an der Frage, wie dicht und barrierefrei das Angebot des öffentlichen Personennahverkehrs ist und ob das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Handicap durch ausreichende Personal- und Raumressourcen möglich gemacht werden kann. Beim Thema Inklusion plädiert Lantermann für eine Wahlfreiheit der Eltern, „weil sie voll dahinter stehen müssen, wenn Inklusion erfolgreich sein soll.“

Inge Lantermann wurde vor 49 Jahren in Mülheim geboren. Sie erlernte nach der Mittleren Reife an der Mühlenfeldschule zunächst den Beruf der Arzthelferin, ehe sie am Heinrich-Heine-Gymnasium in Oberhausen das Abitur nachholte und anschließend eine Ausbildung zur Krankenschwester machte. In diesem Beruf arbeitete sie einige Jahre in den Evangelisch Krankenhäusern Mülheim und Oberhausen, ehe sie begann an der Fachhochschule Bochum Sozialarbeit zu studieren. Nach dem Examen fand sie 1995 bei der Stadt eine Anstellung in der Pflegeberatung, ehe sie 2003 in den Bereich der Wohnberatung für Senioren wechselte. 2007 übernahm sie die Koordination des Netzwerks der Generationen, in dem es darum ging die nachbarschaftlichen und ehrenamtlichen Aktivitäten in den Stadtteilen zu stärken. Seit November 2013 ist sie als Behindertenkoordinatorin der Stadt im Gesundheitsamt (Raum 2.15) an der Heinrich-Melzer-Straße 1-3 zu finden und führt damit qua Amt auch die Geschäfte der Arbeitsgemeinschaft der Behindertenverbände. Wer ihren Rat sucht, sollte unter der Rufnummer 0208/4555367 oder per Mail an inge.lantermann@muelheim-ruhr.de einen Gesprächstermin mit ihr vereinbaren.
 
Dieser Text erschien am 26. Februar 2014 in der Neuen Ruhr Zeitung

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