Wenn Helga (90), ihren vollen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, die Kriegsnachrichten aus der Ukraine verfolgt, werden bei ihr Erinnerungen an ihre Kindheit im Nazi-Deutschland wach. „Warum muss Krieg denn sein? Das macht doch keinen Sinn! Was der russische Präsident Putin tut, erinnert mich an Hitler“, sagt die Zeitzeugin im Gespräch mit dieser Zeitung.
Seit Herbst 1945 ist sie in Mülheim zu Hause. Zufällig
wurde sie 1932 auch hier geboren, „weil meine hochschwangere Mutter damals in
Mülheim ihre Eltern besuchte, die an der Mellinghofer Straße wohnten“, erzählt
Helga. Aber ihre Heimat ist das heute zu Polen gehörende Schlesien. In Pietschen
(Kreis Kreuzburg) wuchs sie auf. Von dort aus musste sie im Januar 1945 mit
ihrer Mutter und ihre zwei Jahre ältere Schwester vor der heranrückenden Roten
Armee fliehen. Auf der Flucht wären die Drei um Haaresbreite von tschechischen Freischärlern
erschossen worden. „Deshalb kann ich mich gut in die Menschen hineinversetzen,
die heute vor den russischen Truppen aus ihrer ukrainischen Heimat zu uns
fliehen“, sagt Helga.
Während sie mit ihrer Mutter und mit ihrer Schwester den
Krieg überlebte und in Mülheim mithilfe der Großeltern eine neue Heimat fanden,
überlebte Helga Vater den Krieg nicht. Denn der selbstständige Schreinermeister
wurde in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen und starb wenig
später in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager.
Die Flucht aus dem deutschen Osten in den deutschen
Westen war für Helga ihre Schwester und ihre Mutter abenteuerlich. Sie führte
über Tschechien, Bayern und Ostwestfalen ins Ruhrgebiet. Zum Teil waren die Drei
zu Fuß mit einem Bollerwagen unterwegs. Zum Teil fuhren Sie in offenen Zügen
mit Kriegsgefangenen oder auf Kohleladungen sitzend durch das vom Krieg
zerstörte Deutschland.
Schon als Kind erkannte Helga, was es bedeutet, wenn das
eigene Land durch ein totalitäres und menschenverachtendes Regime beherrscht und
ins Verderben gestürzt wird. „Als ich sechs Jahre alt war, wurden Menschen mit
einem gelben Davidstern durch unsere Straße getrieben und die von Schwarzuniformierten
mit Gewehrkolben geschlagen. Als ich Mutter davon berichtete, dass Verbrecher durch
unsere Straße geführt worden seien, erklärte sie mir: Das sind keine Verbrecher.
Das sind Juden, die so wie wir Christen an den lieben Gott glauben. Meine
Frage, warum man sie dann, wie Verbrecher, behandele, beantwortete Mutter mit
dem Hinweis: „Das ist Unrecht, aber du darfst keinem davon erzählen. Das muss unser Geheimnis bleiben.“
Helga und ihre Familie standen unter der Beobachtung der
örtlichen NSDAP, weil sich ihr Vater weigerte, in die Partei Hitlers
einzutreten.
„Einmal wurde unseren Eltern damit gedroht, dass man uns
ihnen wegnehmen und in einem Kinderheim richtig erziehen werde, weil auf der
Straße oft nicht mit dem deutschen Gruß grüßten. Unter diesem Druck haben uns
unsere Eltern dann doch zum NS-Bund Deutscher Mädel geschickt, wo wir einmal in
der Woche zum Fahnenappell antreten, und NS-Lieder singen mussten“, berichtet
Helga.
Unvergessen bleibt ihr der „arme Hitlerjunge“, „dem vor
der ganzen Gruppe die Abzeichen auf seinem HJ-Hemd abgerissen wurden, weil er
eine jüdische Großmutter hatte.“ Mit einer List mogelte sich Helga an dem
Jungen vorbei, ohne ihn, wie von den HJ-Führern befohlen, zu bespucken.
„Ich weiß“, schaut Helga zurück, „dass mein Vater nach
der Reichspogromnacht im November 1938 einem jüdischen Schuhhändler geholfen
hat, seine von SS-Leuten zerschlagenen Schaufenster mit Holzbrettern
abzudichten“, sagt Helga. Beklommen erinnert sie sich auch an einen Einkauf in
Breslau, bei dem sie miterlebte, wie einem Mann mit Davidstern der Kauf eines
Türschlosses verweigert wurde. Das von ihm gewünschte Türschloss kaufte dann
mein Vater und ließ mich dem jüdischen Mann nachlaufen, um ihm das Türschloss
zu geben“
Im Gedächtnis geblieben ist Helga auch die Doppelmoral
des Schulrektors, der angesichts der heranrückenden Roten Armee allen Einwohnern,
die die Stadt räumen wollten, mit standrechtlicher Erschießung drohte, obwohl
sich seine Frau mit einem Treck in Richtung Westen abgesetzt hatte.
Doch Helgas Vater erkannte die Lage und baute zwei große
Holzkoffer für seine Frau und seine beiden Töchter, mit denen er sie auf die
ungewisse Reise nach Westen schickte. „Da die Eltern meiner Mutter in Mülheim
an der Ruhr lebten, wollten wir uns dorthin durchschlagen“, erinnert sich Helga.
Der Anfang im kriegszerstörten Mülheim war hart. „Bei der
Ankunft am Bahnhof stellten wir fest, dass unsere Holzkoffer aufgebrochen und
ihr Inhalt gestohlen worden war. Wir mussten also hier bei Null anfangen. Wir
hatten nur das, was wir am Leibe trugen, zum Beispiel unsere Decken. Doch wir
konnten erst bei unseren Großeltern an der Mellinghofer Straße und später in
einem Zimmer an der Oberhausener Straße unterkommen“, berichtet Helga.
An der Oberhausener Straße ging sie auch zur Schule und wurde von den Quäkern mit einer Schulspeisung versorgt. „Wir bekamen Erbsen- oder Biskuitsuppe und einmal sogar Schokolade“, weiß Helga zu berichten. Bevor sie nach ihrem Schulabschluss, in der Stadtmitte eine Friseurlehre begann und diesen Beruf dann auch gerne bis zur Rente ausübte, musste Helga „als Hilfslehrerin bei den I-Dötzchen aushelfen, weil es damals zu wenige entnazifizierte Lehrer gab.“ 2003 hat Helga ihre alte schlesische Heimat Pietschen, die heute als Teil Polens Byczyna heißt, noch einmal mit ihrer Schwester besucht. Auf ihrer wehmütigen Spurensuche haben die beiden Schwestern Neues und Altbekannte entdeckt, aber vor allem die Erkenntnis mitgenommen, „dass Krieg nicht nur über unsere Familie viel Leid gebracht hat, weil zu viele Menschen extremen politischen Führern und ihrer menschenverachtenden Ideologie gefolgt sind.“
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