Freitag, 22. April 2022

Erste Wahl

Vor 75 Jahren sind 93.000 Mülheimer aufgerufen den ersten Landtag des aus ehemals preußischen Provinzen geschaffenen Nordrhein-Westfalens zu wählen. Am Ende des Wahltages, dem 20.April 1947, haben 64 Prozent der Stimmberechtigten von ihrem Wahlrecht genutzt, um mit 33 Prozent die SPD, mit 29 Prozent die CDU, mit 18 Prozent die KPD, mit 12 Prozent die FDP, mit 4 Prozent das Zentrum und mit 3 Prozent die Deutsche Reichspartei zu wählen.

Zwei Jahre nach Kriegsende bilden Frauen und Erstwähler die größten Wählergruppen bei der zweiten Nachkriegswahl. Wählen darf, wer mindestens 21 Jahre alt ist. Gewählt werden darf man ab 25. Weder wählen noch gewählt werden darf, wer von der für Mülheim zuständigen britischen Militärregierung als „politisch belastet“ eingestuft worden ist. Denn zwischen 1933 und 1945 kannten auch die Mülheimer nur eine Partei, die NSDAP.


Die Rahmenbedingungen 

Am 20. April 1947 gehen Menschen in Mülheim zur Wahl, die hungern und in einer Trümmerstadt leben. Ihre Lebensmittel bekommen sie nur gegen Bezugsmarken oder auf dem Schwarzmarkt. Die Reichsmark in ihren Portemonnaies ist so gut wie wertlos. Eine neue Währung ist noch nicht in Sicht.

Die Mülheimer fahren zum Hamstern aufs Land, suchen eine der 20 städtischen Notküchen auf oder bekommen als Schüler eine Schulspeisung des Schwedischen Roten Kreuzes. Manche bekommen auch ein Care-Paket aus den USA oder werden als unterernährtes Kind von Schweizer Familien zu einem dreimonatigen Erholungsurlaub eingeladen. Kinder, die nicht in die Schweiz fahren können, schickt die Stadt zur Landerholung aufs Schloss Landsberg. Andere können sich mit Gemüse, Marke Eigenanbau am Leben halten. Wer noch Kraft hat, hilft beim Trümmerräumen und ergattert so den einen oder anderen Stein für den Wiederaufbau seines eigenen Hauses. Jedes dritte Haus in Mülheim ist vom Krieg zerstört.


Alle Einwohner der Stadt, 15.000 von ihnen kommen als Kriegsflüchtlinge, aus dem deutschen Osten, haben Anspruch auf 1000 Kalorien pro Tag. Bergarbeiter sollen täglich 5000 Kalorien bekommen. Doch das Papier der Bezugsscheine ist geduldig und hält nicht immer, was die britische Militärregierung verspricht. Wer einkauft, muss anstehen!

Auch Benzin ist Mangelware. Deshalb schränkt die Stadt ihre Müllabfuhr ein und verhängt Fahrverbote für private Fahrzeuge. Auto fahren darf nur, wer lebenswichtige Güter transportiert. In Mülheim geht man 1947 zu Fuß oder fährt mit der Straßenbahn. Der städtische Verkehrsbetrieb registriert 1947 32 Millionen Fahrgäste.

Auch Papier ist im Landtagswahlkampf 1947 knapp. Die Lokalpresse erscheint nur zwei bis dreimal pro Woche. Die Parteien setzen in den beiden Mülheimer Landtagswahlkreisen Süd und Nord  auf Versammlungen, Zeitungsanzeigen, Plakate und Handzettel. Letztere werden zum Teil auch per Post verschickt.


Die Kandidaten

Die CDU schickt im Süden der Stadt den ehemaligen Düsseldorfer Oberbürgermeister Robert Lehr ins Rennen. Ihm stehen dort der SPD-Stadtrat und Leiter der Allgemeinen Ortskrankenkasse, Heinrich Thöne, der Betriebswirt und FDP-Stadtrat Wilhelm Dörnhaus, der für das Zentrum kandidierende Arzt Leo Bläser, der Buchhändler Dr. Walter Koch von der Deutschen Reichspartei und der Schlosser Friedrich Müllerstein (KPD) gegenüber. Im Norden der Stadt werben Bergmann Wilhelm Heinen (CDU), Gewerkschaftssekretär und SPD-Stadtrat Heinrich Bruckhoff, der Direktor des örtlichen Gasversorgers Rhenag, Friedrich Heitmann, (FDP), Bauführer und KPD-Stadtrat Günter Daus, der Diplom-Ingenieur, Dr. Gerhard Gille (Deutsche Reichspartei) und der Buchhalter Josef Blenskemper vom Zentrum um die Wählergunst.


Die Programme

„Wir kämpfen für die Gemeinwirtschaft und gegen die Bürokratie“, versprechen die Christdemokraten. „Hoffnungslos? Nein! Heraus aus der Not. Weg mit Großkapital und Großgrundbesitz“, appellieren die Kommunisten. „Nur die freie Wirtschaft bricht die Not“, sagt die FDP. „Wer erhalten Sicherheit und Ordnung“, verspricht das Zentrum. Und die SPD verspricht: „Wir sehen in die Zukunft. Wir wollen soziale Ordnung, und politische Vernunft.  Wir wollen eine bessere und schönere Zukunft für alle mit Freiheit, Frieden und einem menschenwürdigen Leben für alle!“

Am Ende des Wahltages ziehen mit Robert Lehr (CDU), Heinrich Bruckhoff (SPD) und Wilhelm Dörnhaus (FDP) drei Mülheimer in den ersten gewählten NRW-Landtag ein. (TE)

 

Das harte Brot der frühen Jahre

Der ehemalige SPD-Landtagsabgeordnete Günter Weber (Jahrgang 1935) gehörte von 1990 bis 2000 dem Landtag an. Er berichtet aus dessen Geschichte: „Die 1947 gewählten Landtagsabgeordneten tagt in einem Saal der Düsseldorfer Henkel-Werke, der auch als Kinosaal der britischen Militärregierung diente. Wenn britische Offiziere Filme anschauen wollten, mussten die Abgeordneten ihre Sitzung unterbrechen. Außerdem konnten Gesetze, die der erste Landtag verabschiedete, bis zum Inkrafttreten des Besatzungsstatutes am 12. Mai 1949, nur mit Zustimmung der britischen Militärregierung in Kraft treten. Die ersten gewählten Landtagsabgeordneten bekamen monatlich 300 Reichsmark, ein Sitzungsgeld von 20 Reichsmark und eine Kilometerpauschale von 20 Pfennigen. Für öffentliche Proteste sorgte die gute Verpflegung der Abgeordneten an den Sitzungstagen. Auf ihrem Speiseplan standen drei Scheiben Brot mit Käse und Marmelade, Möhrengemüse und eine Frikadelle.“


Meine Texte in NRZ und WAZ




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