Als ich jetzt durch den Supermarkt meines Vertrauens ging, überkam mich ein Gefühl wie Weihnachten. Dabei haben wir unbestreitbar erst September und noch nicht Dezember. Doch die Spekulatius, die Christstollen, die Dominosteine und Lebkuchen, die ich in den Auslagen sah, sagten mir etwas anderes. „Die Kunden wollen es“, sagt mir ein Mülheimer Einzelhändler über die offensichtlich verfrühten kulinarischen Weihnachtsgefühle. Also mir bliebe der Dominostein oder der Christstollen im Moment noch im Hals stecken. In einer ohnehin schnelllebigen Zeit fühle ich mich unangenehm unter Druck gesetzt, wenn meinen Geschmacksnerven vorgegaukelt wird, dass wir nicht September, sondern schon Dezember hätten. Doch Weihnachten ist bekanntlich das, was im Kopf passiert. Deshalb mag der mit Dominosteinen, Christstollen und Spekulatiusplätzchen daher kommende vorweihnachtliche Geschmack auf so manches Corona-gebeutelte Nervenkostüm wie ein beruhigender Energiespender wirken, der dem Unterbewusstsein klar macht, egal was noch auf uns zukommt, Weihnachten kommt wie alle Jahre mit seiner Frohen Botschaft wieder und das so sicher wie das Amen in der Corona-bedingt halb leeren Kirche. Vielleicht sollte man mal so manchen auf Krawall gebürsteten Zeitgenossen, die ihren Mitmenschen das Leben schwer machen, Spekulatius, Christstollen, Dominosteine und Lebkuchen auf Rezept verschreiben. Der Einzelhandel und die Krankenkassen würden sich schon auf Rabattverträge einigen. Ich muss einsehen: Weihnachten geht immer, und das nicht nur als Konjunkturspritze, die die Kassen klingeln lässt, sondern vielleicht bei Manchem auch den Groschen fallen lässt, wenn es darum geht, zu erkennen, was im Menschenleben wirklich zählt.
Dieser Text erschien am 25. September 2020 in der NRZ
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