Samstag, 12. September 2020

Ein Streifzug durch die Mülheimer Wahlgeschichte

 Am 13. September haben alle Mülheimer, die mindestens 16 Jahre alt sind und die deutsche oder eine EU-Staatsbürgerschaft besitzen die Wahl. Sie wählen unter zehn Bewerbern eine Oberbürgermeisterin oder einen Oberbürgermeister, den Rat der Stadt und drei Bezirksvertretungen

Das war nicht immer so: Bis zum Ende des Kaiserreiches, im Jahr 1918, galt bei preußischen Kommunalwahlen und damit auch bei den Kommunalwahlen in Mülheim ein Dreiklassenwahlrecht. Es teilte die Bürger nach ihrem Steueraufkommen In 3 Klassen ein. Das führte dazu, dass die breite Bevölkerung, die vergleichsweise wenige Steuern zahlte, drei Viertel der Bevölkerung, aber nur ein Drittel der Stimmen stellte. Umgekehrt stellten die wohlhabenden Mülheimer, die sich in der ersten und zweiten Steuerklasse wiederfanden nur ein Viertel der Bevölkerung, aber zwei Drittel der Stimmen. Hinzu kam, dass die Frauen bis 1918 gar nicht stimmberechtigt waren. Am 2. März 1919 fand die erste Kommunalwahl statt, bei der Frauen wählen durften und gewählt werden konnten. Mit Luise Blumberg von der liberalen Deutschen Volkspartei, Maria Büßmeyer und Katharina Havermann (bei dem katholischen Zentrum) zogen damals die ersten Frauen ins Stadtparlament ein. Allerdings standen sie damals einer männlichen Übermacht von 69 Ratsherrn gegenüber Zum Vergleich: Von den heute 55 Stadtverordneten sind 11 Frauen. Es sollte bis 1982 dauern, ehe mit der Sozialdemokratin Eleonore Güllenstern die erste Frau zur Oberbürgermeisterin Mülheims gewählt wurde.

Anders, als ihre ab 1999 gewählten Nachfolger, waren Güllenstern und ihre Nachkriegsvorgänger nur Vorsitzende des Stadtrates und Repräsentanten der Bürgerschaft, während die Verwaltung zwischen 1946 und 1999 von einem Oberstadtdirektor geführt wurde. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Oberbürgermeister, wie heute, Repräsentanten der Bürgerschaft, Vorsitzende des Rates und Verwaltungschef. Sie wurden damals aber nicht direkt durch die Bürgerschaft, sondern durch die von den Bürgern gewählten Stadtverordneten ins OB-Amt gewählt. Das galt auch wie die Oberbürgermeister und Oberstadtdirektoren der Nachkriegszeit. Sie wurden nach der von der britischen Besatzungsmacht eingeführten Kommunalverfassung von 1946 nicht direkt durch die Bürgerschaft, sondern durch das Stadtparlament gewählt.

Vor 1918 führte das preußische Dreiklassenwahlrecht dazu, dass es im Stadtrat ausschließlich liberale und konservative Ratsherrn gab, die die Interessen des Bürgertums vertraten. So konnten die Sozialdemokraten erst mit der Einführung des allgemeinen Und demokratischen Kommunalwahlrechtes ab 1918 Einfluss auf die Mülheimer Kommunalpolitik gewinnen. Allerdings verteilten sich die Stimmen der Arbeiterschaft nicht nur auf die Sozialdemokraten, sondern auch auf das katholische Zentrum und die Kommunisten, die bis zu ihrem Verbot (1933 und 1956) im Stadtrat vertreten waren. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit, 1933 waren rund 17.000 der damals insgesamt 128.000 Mülheimer erwerbslos erhielten auch die Nationalsozialisten immer mehr Stimmen. Sie konnten 1929 erstmals mit einem Stadtverordneten Ins Stadtparlament einziehen

4 Jahre später stellten sie nach der Kommunalwahl im März 1933 mit 23 von 51 Ratsmitgliedern die stärkste Fraktion und bildeten mit den 6 Stadtverordneten ihrer Bündnispartner von dem Deutschnationalen Volkspartei erstmals die Ratsmehrheit. Diese nutzten sie, um den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg und den von ihm ernannten Reichskanzler Adolf Hitler zu Ehrenbürgern der Stadt zu erklären. Gleichzeitig beschloss die neue Ratsmehrheit eine Verordnung zu verabschieden , die jüdische Unternehmen Von städtischen Aufträgen ausgeschlossen. Außerdem waren die gewählten Stadtverordneten der KPD bereits vor der konstituierenden Ratssitzung verhaftet worden. Mit dem Sozialdemokraten  Wilhelm Müller und den Kommunisten Fritz Terres und Otto Gaudig mussten 1944 und 1945 drei Stadtveordnete ihren Widerstand gegen Hitler mit dem Leben bezahlen. 1946 und 1995 beschloss der Rat der Stadt, alle in der NS-Zeit verliehenen Ehrenbürgerschaften abzuerkennen.

Mit dem Eisenbahninspektor Wilhelm Maerz wurde damals ein Nationalsozialist zum Oberbürgermeister gewählt . Er war als Verwaltungschef allerdings überfordert. Deshalb sahen sich die vom Stadtverordneten Karl Kamphausen geführten Nationalsozialisten gezwungen, ihren eigenen Parteigenossen durch den Verwaltungsfachmann, Edwin Hasenjaeger, zu ersetzen. Hasenjaeger sanierte die Stadtfinanzen und stärkte dem von den Nazis verfemten  Mülheimer Künstler Otto Pankok den Rücken, indem er seine Werke für das Kunstmuseum der Stadt ankaufte. Er musste aber 1937 auf Druck der Nationalsozialisten, die gleich gegenüber dem Rathaus im Horst-Wessel Haus an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße, residierten, in die NSDAP eintreten. Das wurde ihm zum Verhängnis. Nach dem Einmarsch der Amerikaner am 11. April 1945 wurde Hasenjaeger abgesetzt und interniert. Er wurde zwar später von der alliierten Militärregierung wiedereingesetzt, musste aber 1946 aufgrund des politischen Drucks von SPD und KPD endgültig zurücktreten.

Nach der ersten Kommunalwahl vom 13. Oktober 1946 stellte die Christdemokraten in dem bis dahin von der britischen Militärregierung ernannten Stadtrat, die Mehrheit und wählten damit ihren Vorsitzenden Wilhelm Diederichs zum Oberbürgermeister. Doch schon 2 Jahre später begann mit dem Wahlsieg der Sozialdemokraten und dem Amtsantritt ihres Oberbürgermeisters Heinrich Thöne eine über 40 Jahre währende Ära, in der sozialdemokratische Ratsmehrheiten, Oberbürgermeister und Oberstadtdirektoren die Geschichte der Stadt bestimmten. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister Heinrich Thöne und der christdemokratische Bürgermeister Max Kölges wurden zu populären Galionsfiguren des Mülheimer Wiederaufbaus. Beide wurden deshalb 1960 und 1962 vom Rat der Stadt zu Ehrenbürgern der Stadt ernannt. Die gleiche Ehre wurde der nationalliberalen Oberbürgermeister Paul Lembke am Ende seiner 24-jährigen Amtszeit 1928 zu Teil.

Lembke ging als der Vater der Mülheimer Großstadt in die Geschichte ein. Vieles von dem, was heute zu den Identifikationspunkten der Stadt gehört, geht auf seine Initiative zurück. Das gilt für den Bau des Rathauses und der Stadthalle ebenso wie für die Einrichtung des  Raffelbergparks, zu dem  bis 1992 ein Solbad gehörte, für die Eröffnung der Rennbahn am Raffelberg, für den Bau des Wasserbahnhofes und die Einrichtung der Weißen Flotte sowie für die Schaffung des Speldorfer Hafens . Unter Lembke wurde Mühlheim auch zum Standort das Kaiser Wilhelm-Instituts für Kohleforschung, das wir heute als Max-Planck-Institut kennen. Durch eine geschickte Eingemeindungspolitik überschritt Mülheim während seiner Amtszeit Im Jahr 1908 die 100.000-Einwohner -Grenze zur Großstadt. Unterstrichen wurden die Ambitionen der Großstadt auch durch die 1925 eröffneten Flughafen .

In den 1970er Jahren schlug sich der von Bundeskanzler Willy Brandt 1969 formulierte Anspruch: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ auch in der Kommunalpolitik nieder. Damals wurde das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Und mit den Bezirksvertretungen wurden erstmals bürgernahe Stadtteilparlamente gewählt. Für mehr demokratische Bürgernähe und politische Transparenz traten auch die Mülheimer Grünen ein, die erstmals 1984 neben Sozial,- Christ,- und Freidemokraten als vierte Fraktion ins Stadtparlament einzogen. Mit der Entscheidung des Landesverfassungsgerichtes wurde 1999 bei den Kommunalwahlen die bis dahin geltende 5%-Hürde abgeschafft. In der Folge wurde die Mehrheitsbildung in einem immer bunteren und damit auch repräsentativeren Rat immer schwieriger. Um die demokratische Repräsentation der Bürger zu stärken, beschloss der Landtag 1994 Reform der Kommunalverfassung. Wie in Süddeutschland, wurden ab 1999 auch in Nordrhein-Westfalen die Oberbürgermeister direkt durch die Bürger gewählt. Gleichzeitig wurde ihre Position gestärkt, indem sie in ihrem Amt den Ratsvorsitz und die Repräsentation der Bürgerschaft mit der Führung der Verwaltung vereinten. Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass die gut gemeinten Kommunalwahlreformen nicht nur mehr Demokratie, sondern auch mehr Probleme Im Sinne einer Mehrheitsfindung im Rat und einer professionellen Stadtregierung mit sich gebracht haben. Gleich mit der ersten Direktwahl seines Oberbürgermeisters machte Mülheim im September 1999 bundesweit Schlagzeilen. Nachdem der Sozialdemokrat Thomas Schröer zunächst mit einem Vorsprung von 33 Stimmen zum Oberbürgermeister gewählt worden war, ergab eine Nachzählung der Stimmen, dass sein Gegenkandidat Jens Baganz von der CDU die OB-Wahl mit einem Vorsprung von 58 Stimmen gewonnen hatte. Zuvor hatten Christdemokraten und Grüne mit einer damals noch ungewöhnlichen schwarz-grünen Zusammenarbeit unter Führung von Oberbürgermeister Hans-Georg Specht (CDU) und Bürgermeister Wilhelm Knabe (Grüne) für bundesweites Interesse an der Mülheimer Kommunalpolitik gesorgt.

Hintergrund 

Carl von Bock und Polach war 1895 der erste Mülheimer Oberbürgermeister. Obwohl Mülheim damals noch keine 100.000 Einwohner hatte, verlieh ihm die preußische Regierung diesen Ehrentitel aufgrund seiner besonderen Verdienste um die Stadt . Der ehemalige Offizier und Verwaltungsbeamte hatte in seiner Amtszeit von 1879 bis 1902 unter anderem dafür gesorgt, dass Mülheim grüne Ruhranlagen, eine elektrische Straßenbahn, eine wirtschaftlich einträgliche Militärgarnison und ein Amtsgericht bekam. Ihm folgten die Oberbürgermeister Paul Lembke (1904 – 1928), Alfred Schmidt (1930- 1933), Wilhelm Maerz (1933 – 1936), Edwin Hasenjaeger (1936 bis 1946), Wilhelm Diederichs 1946 bis 1948, Heinrich Thöne (1948 bis 1969), Heinz Hager, 1969 bis 1974, Dieter aus dem Siepen (1974 bis 1982), Eleonore Güllenstern (1982 bis 1994), Hans-Georg Specht 1994 - 1999, Jens Baganz (1999 bis 2002), Dagmar Mühlenfeld (2003 bis 2015) und Ulrich Scholten (seit 2015).


Dieser Text erschien in NRZ & WAZ vom 10. September 2020



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