Wenn etwas in unserer schnelllebigen Zeit 25 Jahre Bestand hat und immer wieder nachgefragt wird, beweist das seinen Wert. Deshalb konnten sich das Medienforum des Bistums, seine katholische Akademie Die Wolfsburg, der Borromäusverein, das Kinder- und Jugendliteraturzentrum NRW und die Bundeszentrale für Politische Bildung als Veranstaltergemeinschaft darüber freuen, dass sich interessierte und engagierte Menschen aus dem katholischen Bibliothekswesen sowie aus den Bereichen Bildung, Erziehung, Jugendarbeit und Literatur zum 25. Mal auf eine religiöse Spurensuche in der wunderbaren Welt der Kinder- und Jugendliteratur begaben.
„Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Generationen durch die gemeinsame Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur religiöse Dimensionen entdecken und gemeinsame Erfahrungen machen können, die dazu führen, das man über den Glauben ins Gespräch kommt“, berichtet Vera Steinkamp vom Medienforum. Sie begleitet die Veranstaltungsreihe, die auf eine Initiative des Schriftstellers Willi Fährmann und des Weihbischofs Franz Grave zurückgeht, seit ihrem Beginn. Auch wenn Steinkamp einräumt, dass die religiösen Spuren in der Literatur heute oft nicht mehr so deutlich sichtbar werden wie noch vor 25 Jahren, zeigte doch auch die aktuelle Tagung in der Wolfsburg, dass sie sehr wohl vorhanden sind.
Inspiriert vom Tagungsthema: „Irgendwie anders – Wann wird das Andere zum Fremden?“ konfrontierte der Literaturwissenschaftler Volker Wortmann von der Universität Hildesheim die 140 Tagungsteilnehmer zum Beispiel mit einer aussagekräftigen Szene aus Yann Martels Roman „Schiffbruch mit Tiger“, in der der hindusitische Junge Pi in Indien zunächst einen Priester beobachtet und dann zum ersten Mal eine Kirche betritt, wo er aus seiner unbefangenen Fremdheit heraus gleich zentrale Fragen an die religiöse Bedeutung und Gestaltung des Kirchenraumes stellt. Die katholischen Zuhörer reagierten mit nachdenklicher Heiterkeit, als sich Pi fragt, warum ausgerechnet eine „Folterszene“ (Kreuzigung) im Mittelpunkt eines Gotteshauses stehe, warum Gott sich das antue und was es mit „mit den fetten fliegenden Babys“ (Engeln) auf sich habe. Vom sich Wundern „über den Fußgänger-Gott, der sich nur einen Esel leisten konnte“ wird da ebenso berichtet, wie von der einladenden Ausstrahlung des wartenden und arbeitenden Priesters, dessen Tür für Besucher immer offen steht.
Für Wortmann leistet solche Literatur, „dass sich Leser auf einen Perspektivwechsel einlassen müssen, weil sie das ihnen Bekannte und Vertraute plötzlich als fremd erfahren und so die Erfahrung machen, dass die eigenen religiösen Traditionen keine Totalität darstellen und deshalb auch nicht verabsolutiert werden können.“ Für Wortmann haben Gott und Fremde eines gemeinsam: „Man sollte nicht über sie, sondern lieber mit ihnen sprechen.“
Ebenso wie Wortmann, plädierte auch die Soziologin und Psychoanalytikerin Eva-Maria Nasner-Maas von der Universiät Osnabrück für einen Perspektivwechsel, der das Fremde und den Fremden weder tabuisiere noch idealisiere. Als Vorbild empfahl sie ihren erwachsenen Zuhörern den „experimentellen Blick eines kleinen Kindes“, das im Spannungsfeld zwischen Neugierde und Angst jeden Tag neues entdecke und damit aus dem anfänglich Fremden Vertrautes werden lasse. Wie Wortmann und Nasner-Maas glaubt auch Schriftsteller Willi Fährmann weniger an die Wirkkraft politisch korrekter Literatur, die den „Neger“ aus alten Kinderbüchern verbannt, als vielmehr „an das Erzählen menschlicher Schicksale, die zeigen, wie Menschen leben“ und so auch anfangs fremde Menschen verstehbar und vertraut mache.
„Man merkt die Absicht und ist verstimmt“, machte denn auch Akademiedozent und Tagungsleiter Matthias Keidel deutlich, dass politisch überkorrekte Kinder- und Jugendliteratur vielleicht gut gemeint, aber nicht gut gemacht ist und deshalb am Ende oft das Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht erreicht. Deshalb warnt Vera Steinkamp vom Medienforum auch mit Blick auf die religiöse Spurensuche in der Kinder- und Jugendliteratur davor „deren religiösen Erfahrungsräume katechetisch zu instrumentalisieren.“
Dieser Text erschien am 1. März 2013 im Ruhrwort
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