„Sein Motto war immer: Niemanden ausgrenzen, sondern versöhnen. Er traute Menschen etwas zu und das wirkte sehr ansteckend“, erinnern sich seine Wegbegleiter Christel und Reiner Squarr an Ewald Luhr, der am 30. März 100 Jahre alt geworden wäre.
Dass Luhr die Gabe hatte, vorurteilsfrei auf Menschen zuzugehen, hatte wohl auch mit seiner eigenen Biografie zu tun. Der Vater verunglückte schon vor seiner Geburt als Bergmann auf der Zeche Wiesche. Die Mutter starb, als er sieben Jahre alt war. Der in Speldorf geborene Junge, der bei Pflegeeltern aufwuchs, machte aus der Not eine Tugend. Er entwickelte die Fähigkeit, Menschen für sich zu gewinnen. Im Christlichen Verein Junger Menschen (CVJM) fand er eine geistige und soziale Heimat. Hier übernahm er schon früh Verantwortung als Leiter einer Jugendgruppe. Weil er ein guter Schüler war, wurde er vom Schulgeld befreit und konnte nach dem Abitur am heutigen Karl-Ziegler-Gymnasium, Theologie studieren.
Doch bevor er Pfarrer werden konnte, musste er als Soldat die Hölle des Zweiten Weltkrieges überleben. In der Kriegsgefangenschaft schwor er sich, sein weiteres Leben in den Dienst des Friedens und der Völkerverständigung zu stellen. Luhr hielt Wort und wurde lokal wie international zu einem Friedensstifter.
Als Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Saarn suchte und fand er in England, Holland, Frankreich und Finnland internationale Kontakte, die zu dauerhaften Partnerschaften und Freundschaften wurden und bis heute von Menschen seiner Gemeinde mit Leben gefüllt werden.
Den Anfang machte Luhr, als er sich 1948 für 18 Monate als Seelsorger im englischen Halstead um deutsche Kriegsgefangene kümmerte und dabei auch den Respekt der Engländer erwarb. Damit öffnete Luhr den Menschen seiner Saarner Gemeinde ebenso die Tür nach Europa, wie mit einem Freizeitheim, das er 1960 im niederländischen Westkapelle einrichten ließ. Ebenfalls zu Beginn der 60er Jahre baute er mit seinen Amtsbrüdern und Mitstreitern ein deutsch-französisches Begegnungszentrum in Coutainville auf, in der Normandie, dort, wo er als Soldat im Zweiten Weltkrieg hatte kämpfen und leiden müssen.
Seine Idee, dass sich Menschen, die sich kennen nie wieder aufeinander schießen, inspirierte auch die Zusammenarbeit mit seinem finnischen Kollegen Edvin Laurema aus Kuusankoski. Aus der Freundschaft, die die beiden Pfarrer 1961 zwischen ihren Gemeinden stifteten, sollte die Keimzelle für die 1972 begründete Städtepartnerschaft zwischen Mülheim und Kuusankoski werden. „Luhr, der Brücken bauen und über sie auf andere zugehen konnte, hat nie nur an seine Gemeinde, sondern immer auch an die gesamte Stadt gedacht“, betont Reiner Squarr, der als Vikar bei Luhr lernte und 1980 als Pfarrer in Saarn seine Nachfolge antrat.
An den sozialen Frieden in der Stadt dachte Luhr zum Beispiel, wenn er sich zusammen mit seiner Frau Luise für die Integration der Heimatvertriebenen aus dem Osten oder für die Unterstützung und Entlastung von sozial benachteiligten Familien einsetzte, die damals noch in Notunterkünften einquartiert waren.
Soziale Pionierarbeit leistete der unter anderem mit dem Ehrenring der Stadt und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Pfarrer auch 1963 als Gründungsvorsitzender der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung. Auch dieses Engagement speiste sich aus Luhrs eigener Biografie. Das älteste seiner vier Kinder ist behindert. Und als Theologiestudent im Umfeld der Bekennenden Kirche hatte Luhr im Dritten Reich von der Euthanasiepolitik der Nazis erfahren, die Menschen mit geistiger Behinderung als „lebensunwert“ betrachteten.
So gesehen oder: Lies nach bei Pastor Luhr
Klagen gehört heute zum guten Ton. Den Tag, an dem man keinen Menschen trifft, der meint, dass früher sowieso alles besser gewesen sei und wir heute in einem Jammertal mit düsteren Aussichten leben, kann man sich im Kalender anstreichen.
Anstreichen kann man sich aber auch den Satz den ich gestern in den Lebenserinnerungen von Pastor Ewald Luhr (siehe oben) gelesen habe: „Jede Zeit ist eine Gabe und Aufgabe für den Menschen.“ Wenn man diesen Satz aus der Feder eines Mannes liest, der als Waisenkind sein Leben gemeistert und dabei eine Diktatur und einen Krieg überlebt hat, um anschließend daraus die Konsequenz zu sehen, als Mensch und Gottesmann anzupacken statt zu klagen, dann stimmt das versöhnlich und kann uns auch heute Mut machen, aus unserer Zeit das beste zu machen. Ob sie besser oder schlechter wird, liegt auch an uns. Da kann uns das Leben Luhrs in diesen vorösterlichen Tagen dazu inspirieren, anzufangen statt aufzugeben, damit sich unser Leben lohnt.
Diese Texte erschienen am 27. März 2013 in der Neuen Ruhr Zeitung
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