Wie nutzt man ein leerstehendes Ladenlokal in bester Innenstadtlage, wenn man keinen Geschäftsinhaber hat, der es mieten möchte? Das ist eine Frage, die sich in vielen Städten des Ruhrgebietes und auch in anderen strukturschwachen Regionen der Republik immer öfter stellt. Die Kaufleute in der Mülheimer Innenstadt und die örtliche Stadtmarketinggesellschaft haben in diesem Sommer eine Antwort gefunden, die beim Publikum offensichtlich gut ankommt. Sie lassen in dem großräumigen Ladenlokal, in dem bis zu 100 Zuschauer Platz finden die Puppen tanzen, frei nach dem Motto: „Eintritt frei und Spaß dabei.“ Die Fäden halten dabei die beiden Puppenspieler Wolfgang Kaup und Dorothee Wellfonder in der Hand. Nach den Bremer Stadtmusikanten steht an diesem Samstag in der City Astrid Lindgrens Klassiker Pippi Langstrumpf auf dem Programm. Kurz vor der ersten Vorstellung stellt sich Wolfgang Kaup vor dem Ladenlokal, das jetzt zum Puppentheater geworden ist, im schwarzen Anzug und mit Bowlerhut an seine Drehorgel, während seine Frau Dorothee mit ihrer Pippi-Langstrumpf-Puppe die ersten Kinder und Eltern anlockt. „Mit Pippi Langstrumpf kam für uns 1986 der Durchbruch“, erinnert sich das Puppenspielerpaar. Besonders stolz sind sie auf einen Brief von Astrid Lindgren, die ihnen damals bescheinigte, dass weltweit erste Figurentheater zu sein, das ihre Pippi als Puppe auf die Bühne brachte.
Auch diesmal begeistert Pippi, die sich die Welt bekanntlich macht, wie sie ihr gefällt, ihre großen und kleinen Zuschauer, die denn auch mit Applaus nicht geizen. Zwischendurch packt Wolfgang Kaup dann auch noch seine Gitarre aus und holt die Kinder und ihre Eltern mit einem kleinem Boogie Woogie von den Stühlen. Hier soll man nicht nur sitzen und zuschauen, sondern auch mal mitmachen und in Bewegung kommen. Doch ist Pippi, die jeder elterlichen Erziehungsautorität spottet als Puppenspiel auch pädagogisch wertvoll? „Als Kind wurde ich oft wegen meiner roten Haare gehänselt. Da war Pippi Langstrumpf für mich ein Idol, weil sie ein starkes Mädchen mit roten Haaren ist, das alles im Griff hat“, erzählt die zweifache Mutter. Ihre Kinder, die inzwischen aus dem Puppenspielalter heraus sind, aber bestimmt irgendwann wieder hereinkommen, waren natürlich auch von dem starken und erziehungsresistenten Mädchen aus Schweden begeistert. Auch als Vater hat Wolfgang Kaup keine Bedenken, Eltern und Kindern Pippi Langstrumpf als starkes Mädchen zu präsentieren, „weil die Kinder genau wissen, dass manche Verhaltensweisen, die wir auf der Puppenbühne darstellen, nicht in ihren Alltag passen würden, es ihnen aber gut tut, wenn sie im Puppenspiel vorgeführt bekommen, dass auch die Erwachsenen manchmal die Dummen sein können.“
Auch wenn das Wodo-Puppenspiel, dessen Kürzel für die Vornamen seiner Akteure Wolfgang und Dorothee steht, seine Aufführungen im Laufe von jetzt schon 29 Bühnenjahren mit schnelleren und kürzeren Szenen an die Fernsehgewohnheiten und die kürzere Aufmerksamkeitsspanne heutiger Kinder angepasst haben, sagt Wolfgang Kaup auch mit Blick auf die mulitmediale Welt, in die Kinder heute hineinwachsen. „Puppentheater ist das ideale Theater für Kinder, natürlich auch für Erwachsene, aber ganz besonders für Kinder, weil es die Möglichkeit bietet, mit überschaubaren Mitteln kleine phantastische Welten zu schaffen, in denen man zum Beispiel Tiere und seltsame Gestalten zum Sprechen bringen kann. Das ist im Theaterschauspiel schwieriger, weil dann Menschen auf der Bühne stehen, die vielleicht auch Masken tragen. Und dabei entwickeln kleine Kinder eher Ängste, was sie beim Puppenspiel definitiv nicht tun. Deshalb lassen sie sich auch immer wieder darauf ein.“
Natürlich wollen Dorothee Wellfonder und Wolfgang Kaup, die sich und den pädagogischen Wert des Puppenspiels während ihres gemeinsamen Sozialpädagogik-Studiums kennen gelernt hatten, als Puppenspieler, Eltern und Pädagogen auch Inhalte transportieren. In ihrer „Zirkusshow mit Flummi und Flo“, bei der Wolfgang Kaup zwischenzeitlich auch mal in die schmucke Uniform eines Zirkusdirektors schlüpft, geht es zum Beispiel um gesunde Ernährung. „Hier zeigen wir den Kindern, dass man einen Geburtstag nicht nur mit Kaffee und Kuchen feiern kann,“ betont Kaup. Dass die beiden Kinder Flummi und Flo ihre Großmutter zum Geburtstag mit einem Obstsalat und einer selbstgemachten Zirkusshow überraschen soll die Kreativität der kleinen Zuschauer anregen und zur Nachahmung ermutigen.
„Ich habe mich oft gefragt, warum dieses Stück so außerordentlich beliebt ist“, sagt Wolfgang Kaup mit Blick auf das von einer Bilderbuchreihe inspirierte Puppenspiel „Conni ist krank“, in dem erzählt wird, was passiert, als der Vater sich um seine kranke Tochter kümmern muss, weil die Mutter gerade eine berufliche Weiterbildung macht. „Das ist doch eine ganz normale Familiengeschichte, wie ich sie selbst auch in meinem Alltag mit Frau und Kindern lebe“, sagt Kaup. Doch je länger seine Frau und er dieses Stück mit offensichtlichem Publikumserfolg aufführen, desto mehr ist ihnen selbst klar geworden, „dass diese Geschichte eine Geschichte über den Wert der Familie ist, den viele Kinder und Eltern heute schon nicht mehr als normal, sondern als phantastisch erleben.“ So wird das Puppenspiel zur Projektionsfläche für eine immer öfter nicht verwirklichte Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit.
Kennen Puppenspiel-Profis, wie Kaup und Wellfonder so etwas wie Lampenfieber? „Wir haben auch heute noch vor jeder Aufführung Lampenfieber“, sagen Wolfgang und Dorothee, die als Wodo-Puppenspieler von Anfang an gemeinsame Sache machten. Der Anfang. Das war eine Aufführung des selbst geschriebenen Stücks „Dori im Futureland“. Man schrieb das Jahr 1983. Die beiden gerade frisch diplomierten Sozialpädagogen wollten damals unbedingt ein Science-Fiction-Stück auf die Bühne bringen, „das bei Kindern ankommt.“ Auch dieses erste selbst geschriebene Wodo-Stück hatte natürlich eine unterhaltsam verpackte pädagogische Botschaft. Denn Dori versuchte im Futureland einem Roboter, der nur vor dem Fernsehen saß, zu zeigen, was man mit seiner Freizeit sinnvollerweise sonst noch anfangen kann. Die ersten Zuschauer der Wodos waren Kinder in einer Kindertagesstätte, in der Wolfgang Kaup sein Anerkennungsjahr als Sozialpädagoge absolviert hatte. Damals, vor 29 Jahren, waren in dieser Kindertagesstätte gut 100 Kinderaugenpaare erwartungsvoll auf die beiden Puppenspiel-Debütanten gerichtet. „Das war schon ein komisches Gefühl“, sagt Dorothee Wellfonder rückblickend. „Das war grausam, auch wenn am Ende alles geklappt hat“, erinnert sich Wolfgang Kaup.
Doch bevor sie die erste Szene spielen konnten, mussten sie erst mal zur Stichsäge greifen, weil ihre Marionettenbühne für das Kindergartenfoyer, in dem die Aufführung stattfand, viel zu hoch geraten war. „Ich habe nur gehofft, dass alles hält und passt“, erinnert sich Wellfonder.
In der fünften oder sechsten Spielminute kam dann die Einrichtungsleiterin hinter die Bühne und gab dem Wodo-Puppenspielerpaar zu verstehen: „Wirklich toll. Aber vielleicht geht es etwas lauter, damit auch alle was verstehen.“ Danach, so erinnern sich Wolfgang Kaup und Dorothee Wellfonder, sei dann irgendwie der Knoten geplatzt. Am Ende gab es nicht nur viel Applaus, sondern auch noch die Forderung nach Zugabe. „Darauf waren wir gar nicht vorbereitet. Das hatten wir gar nicht eingeplant“, erinnern sich die heute 53-jährigen Puppenspielprofis, die damals noch ambitionierte Amateure waren, „die sich nicht vorstellen konnten, dass uns das Puppenspiel eines Tages ernähren könnte.“ Die Zugabe blieb Wodo bei seiner turbulenten Premiere, zu der auch eine Diashow und Bonbonregen gehörten, allerdings nicht schuldig. Sie griffen kurzerhand zur Gitarre und sangen mit ihren kleinen Zuschauern noch einige Lieder.
Das erste Wodo-Puppenspiel hatte Folgen. Die Mund-zu-Mund-Propaganda kam in Gang. Nach eher schlecht bezahlten Auftritten bei Kindergeburtstagen und Stadtteilfesten kamen besser bezahlte Auftritte in Kindergärten, Grundschulen und Stadtbüchereien. Heute tourt das Wodo-Puppenspiel mit jährlich mehr als 200 Auftritten durch die ganze Republik und hat seine feste Spielstätte im Ringlokschuppen eines 1959 stillgelegten Eisenbahnausbesserungswerkes, der vor 20 Jahren im Rahmen einer Landesgartenschau zu einem Kulturzentrum umgebaut wurde. Ob Ladenlokal oder ehemalige Werkshalle. Das Wodo-Puppenspiel hat Erfahrung darin, neues Leben in alte Räume zu bringen, in dem es immer wieder die Puppen tanzen lässt und so seine kleinen und großen Zuschauer immer wieder in den Bann phantastischer Welten zieht.
Beiträge zu diesem Thema erschienen im August 2012 in der NRZ und in der Tagespost
Weitere Informationen im Internet unter: www.wodo.de
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