Dienstag, 11. September 2012

Eine ungewöhnliche Lebens- und Liebesgeschichte, die beispielhaft zeigt, was Krieg und Diktatur Menschen angetan haben

Die spannendsten und bewegendsten Geschichten kann man nicht erfinden, sondern nur erleben. Das begreift man, wenn Lillian Crott Berthung und ihre Tochter Randi Crott die Geschichte ihrer Familie erzählen. Es ist eine Geschichte darüber, welches Unglück Rassismus, Diktatur und Krieg über Menschen bringen können. Es ist aber auch die Geschichte einer Liebe, die alle Widerstände und Widrigkeiten überwunden hat. Die in Mülheim aufgewachsene Rundfunkjournalistin und ihre aus Norwegen stammende, aber seit 60 Jahren in Mülheim lebende Mutter erzählen sie jetzt in einem Buch, das sie am Wochenende bei der Lit Colgne vorstellten. Sein Titel: „Erzähl es niemandem.“

Die Geschichte beginnt am 5. April 1942 im nordnorwegischen Harstad. Die 19-jährige Handelsschülerin Lillian lernt in ihrer Heimatstadt den damals 28-jährigen deutschen Wehrmachtssoldaten Helmut Crott kennen und wenig später lieben. Es ist eine unmögliche Liebe in Zeiten des Krieges. „Er war so sportlich und sah so gesund aus. Und er hatte so schöne Zähne, mit denen er für jede Zahnpasta Reklame hätte machen können“, erinnert sich Lillian an ihre erste Begegnung. Und ihr mädchenhaftes Lächeln lässt die Lebensjahrzehnte vergessen. Helmut war einer von rund 400?000 Soldaten, die Norwegen seit dem Sommer 1940 besetzt hielten, weil Hitler den eisfreien Hafen von Narvik in seiner Hand haben wollte, über den er an kriegswichtige Erze aus Schweden kommen konnte.

„Es ist eine Geschichte, die zeigt, wie die große Politik das kleine Leben der Menschen beeinflusst hat“, sagt Randi Crott über die Liebesgeschichte ihrer Eltern, die in der NS-Zeit noch eine ganz andere Dimension hatte.

Als Lillian in Harstad miterleben musste, dass eine jüdische Kaufmannsfamilie von der Gestapo verhaftet wurde, stellte sie ihren deutschen Freund zu Rede: „Wie stehst du dazu.? Ihr habt doch auf eurem Koppel Gott mit uns stehen. Habt ihr Deutschen etwa einen eigenen Gott.“ Da offenbarte ihr Helmut ein für ihn damals lebensgefährliches Geheimnis. Seine Mutter war Jüdin und er damit in den Augen der Nazis ein „Halbjude.“ Deshalb hatte der promovierte Jurist in Deutschland auch noch Betriebswirtschaft studiert, weil ihm das juristische Staatsexamen aufgrund seiner Herkunft verweigert worden war. Der Vater hatte seine Arbeit bei der Reichsbahn verloren, weil er sich von seiner jüdischen Frau nicht scheiden lassen wollte. Mutter und Tante waren ins Konzentrationslager deportiert worden. Nur die Mutter sollte den Holocaust überleben.

Helmut nahm seiner Verlobten das Versprechen ab: „Erzähl es niemandem.“ In diesem Moment wusste Lillian: „Ich liebe diesen Mann und werde ihn nie verlassen.“ Doch der Krieg riss das junge Paar immer wieder auseinander, zumal als die Rote Armee heranrückte und die deutsche Wehrmacht im Herbst 1944 auf Befehl Hitlers im Norden Norwegens verbrannte Erde hinterließ. Jetzt verbot auch der eigentlich deutschfreundliche Vater seiner Tochter die Liebe zu dem Wehrmachtssoldaten, der bei Kriegsende in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten sollte. Auch Lillian musste im Februar 1945 vor der Roten Armee aus ihrer Heimatstadt fliehen, weil sie als dienstverpflichtete Übersetzerin für die deutsche Kommandantur gearbeitet hatte.

Lillian musste sich jetzt im Westen und Süden Norwegens mit diversen Jobs durchschlagen. Ihren Helmut sah sie nach Kriegsende noch einmal in einem Kriegsgefangenenlager bei Oslo, ehe er nach Deutschland abtransportiert wurde. Jetzt sollte sich das Paar über zwei Jahre nicht mehr sehen und sich nur noch sehnsüchtige Briefe schreiben können. Denn die Norwegerin durfte nicht in das besetzte und zerstörte Deutschland einreisen. „Es wird ein Leben in Armut sein. Bleib hier und denk an deine Ausbildung“, warnte der Vater sie, ihrem Verlobten zu folgen.

Doch Helmut und Lillian gaben ihre Liebe nicht auf. Sie fanden „Helfer und Helfershelfer“, die Lillian bei einer abenteuerlichen Flucht, die sie im Kohlentender einer Lokomotive über Dänemark nach Deutschland brachte. „Hier habe ich nur Armut und Elend gesehen“, erinnert sich Lillian an ihre Fahrt durch das zerstörte Nachkriegsdeutschland. Doch dann sah sie am 13. Juni 1947 ihren Helmut wieder, der sie mit roten Nelken am Düsseldorfer Hauptbahnhof abholte. Am 5. April 1948, sechs Jahre, nachdem sie sich in Harstad kennengelernt hatten, gaben sich Lillian und Helmut in Wuppertal das Ja-Wort fürs Leben. Ihr schönstes Hochzeitsgeschenk waren die versöhnlichen Glückwünsche, die Lillians Familie aus Norwegen telegrafierte. Fünf Jahre später kamen die Crotts nach Mülheim, wo Vater Helmut eine Anstellung im mittleren Management der Friedrich-Wilhelms-Hütte fand. Im Sommer machte die Familie regelmäßig Urlaub in Lillians norwegischer Heimat, wo Helmut Crott 2008 auch seine letzte Ruhe finden sollte.

Lillian Crott Berthung, die angesichts ihrer Lebensgeschichte sagt „Leben ist Lieben. Und Kinder sollten in der Schule nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch Nächstenliebe und Toleranz lernen“, erzählte ihrer Tochter Randi erst, als diese 18 Jahre alt war, von den jüdischen Wurzeln ihres Vaters. Helmut Crott wollte bis zu seinem Tod nicht darüber reden, was er als „Halbjude“ im Dritten Reich erlebt und erlitten hatte, weil er auch nach dem Krieg immer wieder auf antisemitisch eingestellte Menschen traf und eine Diskriminierung seiner Familie fürchtete. „Ich habe das nicht verstanden, aber es respektiert“, erinnert sich Randi Crott. Umso wichtiger war es ihr jetzt, die jüdischen Wurzeln ihres Vaters und auch die heute in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Verbrechen zu erforschen und zu dokumentieren, die während des Zweiten Weltkrieges im deutschen Namen in Norwegen begangen wurden. Das 288 Seiten starke Buch „Erzähl es niemandem - Die Liebesgeschichte meiner Eltern“ ist bei Dumont erschienen und für 19,99 Euro im Buchhandel erhältlich.

Dieser Beitrag erschien am 6. Mai 2012 in der NRZ

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