Samstag, 9. Mai 2015

"Wir haben gejubelt": Wie Mülheimer den 8. Mai 1945 erlebten

Wie erlebten Mülheimer den 8. Mai 1945? Viele dachten: "Hoffentlich kommen wir bald nach Hause. Der 8. Mai 1945 steht für das Ende von NS-Diktatur und Krieg. Im Gespräch machten Mülheimer Zeitzeugen vor allem eines deutlich: Am 8. Mai 1945 stand nicht Weltpolitik, sondern der Kampf ums Überleben auf der Tagesordnung. Dennoch wurde der Tag, trotz Ungewissheiten und Widrigkeiten, als Befreiung erlebt.

"Wir waren alle froh, dass es endgültig vorbei war", erinnert sich die 1920 geborene Elli Küppers an das Kriegsende im Mai 1945. Das erlebte sie nicht zu Hause in Styrum, sondern im Teutoburger Wald. Dorthin war die Familie bereits Ende März evakuiert worden. Die Mülheimerin, die heute in Heißen wohnt, erinnert sich noch genau daran, dass man in die gute Stube einer Familie in Pivitzheide bei Detmold einquartiert worden war. Weil die eigenen Lebensmittelkarten nicht anerkannt wurden, musste die Familie bei Bauern um Brot bitten. Dass der Krieg zu Ende war, merkte sie, als sie mit einer Freundin zum Hermannsdenkmal wanderte und plötzlich Zwangsarbeiter auftauchten.

"Ich  hatte die Nase voll vom Krieg", erinnert sich der damals 21-jährige Elektriker Wilhelm Janßen an seinen 8. Mai 1945, den er als Kriegsgefangener im alliierten Wiesenlager von Rheinberg erlebte. Janßen, der seine letzten Kriegstage als Eisenbahn-Flakhelfer erlebt hatte, berichtet von kalten Nächten unter freiem Himmel, denen später nur bedingt wetterfeste Zehn-Mann-Zelte gefolgt seien. Janßen hatte Glück im Unglück. Weil er für die Alliierten zwischenzeitlich Küchendienst schieben und Maschinen reparieren musste. So konnte er dem harten Lageralltag immer wieder entfliehen. Wirklich vorbei war der Krieg für Janßen aber erst am 6. Juni 1945, als ihn ein amerikanischer Lastwagen auf dem Mülheimer Rathausmarkt absetzte. Einen Monat später wurde er in einem Kino an der Schloßstraße dann zum ersten Mal mit den Bildern aus einem Konzentrationslager konfrontiert.

Ebenfalls im berüchtigten Wiesenlager von Rheinberg erlebte Werner Dreesen (Jahrgang 1921) den 8. Mai. Kurz vor Kriegsende hatte er sich selbst aus der Wehrmacht entlassen. Er war schon wieder in Mülheim, als ihn US-Soldaten an einem Straßenposten gefangen nahmen und nach Rheinberg brachten. Dort mussten er und seine Leidensgenossen in Erdlöchern und unter freiem Himmel, krank und hungrig kampieren. "Das war das Schlimmste, woran ich mich erinnern kann", sagt Dreesen. Am 8. Mai flog eine US-Maschine über das Lager und warf Flugblätter ab. Und plötzlich war der Ruf zu hören: "Der Krieg ist aus"

 Der 1927 in Mülheim geborene Heinz Schemkes erlebte die letzten Kriegstage als Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes im Hunsrück. Dort geriet er in Gefangenschaft und wurde nach Frankreich gebracht. Im Lager von Torray La Fleche erfuhr er am 8. Mai 45 von der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. "Wir haben gejubelt und uns gesagt: ,Hoffentlich kommen wir jetzt bald wieder nach Hause. Und dann hat irgendjemand die deutsche Nationalhymne angestimmt", erzählt Heinz Schemkes.

Das Kriegsende erlebte der damals 16-jährige Hans-Joachim Neuhaus mit seiner Mutter in Daspe an der Weser. Wenige Wochen zuvor hatte der junge Luftwaffenhelfer bei einem Tieffliegerangriff einen Arm verloren. Weil seine Mutter damals dort als Sekretärin des Bürgermeisters arbeitete und Neuhaus der englischen Sprache mächtig war, wurde ihm die unerwartete Aufgabe übertragen, das Dorf an die einrückenden US-Truppen zu übergeben. Neuhaus erinnert sich noch gut daran, dass er den Amerikanern mit einem weißen Taschentuch entgegenging, um seine Friedfertigkeit zu zeigen.

Die 1923 geborene Tochter des damaligen Mülheimer Oberbürgermeisters Edwin Hasenjaeger, Margarete Pferdmenges, erlebte das Kriegsende in Oerlinghausen in der Nähe von Bielefeld. Dort lebte ihre Schwägerin. Drei Ereignisse aus der Zeit des Kriegsendes sind ihr besonders in Erinnerung geblieben: Der Schrei der Erleichterung, den ihre Mutter ausstieß, als der Bruder Gisbert heimkehrte, der ebenso wie der 1943 in Russland gefallene Bruder Gunther Soldat gewesen war, sowie das Glück, dass ihr damals gerade ein Jahr alter Sohn Gunther unverletzt blieb, nachdem ein Gewehrschuss der einmarschierenden Amerikaner das Küchenfenster durchschlagen und die Glasscherben in den darunter stehenden Kinderwagen geregnet waren. Und schließlich ist ihr der amerikanische Militärpolizist unvergessen, der während des Mittagessen ins Haus kam, sich wie selbstverständlich eine Flasche Wein aus der Vorratskammer holte, um dann der Familie zum Abschied noch "einen guten Appetit" zu wünschen.

Der spätere Geschichtsvereinsvorsitzende und Studienrat Hans Fischer erlebte das Kriegsende als 13-jähriger Schüler in Bayerisch Eisenstein. Dort kampierte er mit Mitschülern auf Srohballen in einem ehemaligen Kinosaal, als sich plötzlich wie eine Mund-zu-Mund-Propaganda die Nachricht vom Frieden verbreitete. Bayerisch Eisenstein war für Fischer und seine erschöpften Altersgenossen nur eine Etappe auf dem langen Weg aus der Kinderlandverschickung in Böhmen und Mähren zurück nach Mülheim.

Dieser Text erschien am 6. Mai 2005 in der Neuen Ruhr Zeitung

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