„Auch wenn das mit Sicherheit nicht in jedem Kopf der Fall ist, haben wir in Mülheim in Sachen Willkommenskultur doch einen positiven Mainstream“, stellt Sozialdezernent Ulrich Ernst nicht ohne Stolz fest. Er konnte darauf verweisen, dass allein unter der städtischen Federführung durch Sonja Klausen rund 130 Bürger ehrenamtlich für Flüchtlinge aktiv sind. Es geht um Alltagsbegleitung, um Freizeitgestaltung oder auch um Bildungs- und Sprachförderung. „Der Begriff Wunder von Mülheim ist berechtigt“, nahm Stadtdechant Michael Janßen Bezug auf eine vielzitierte Schlagzeile der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er berichtete in diesem Zusammenhang unter anderem von der Arbeit, die die Caritas in ihrer Integrationsagentur leistet und von ihrem neuen Integrationslotensenprojekt, das Anfang des Monats an den Start gegangen ist.
Dass sich Christen für Flüchtlinge öffnen müssen, steht für den Superintendenten Helmut Hitzbleck außer Frage: „Menschen, die sich mit Ach und Krach aus höchster Lebensgefahr zu uns gerettet haben, die rot-weiße Schranke vor die Nase zu knallen und ihnen zu sagen: Das Boot ist voll, würde uns Christen ins Gesicht schlagen und ist deshalb ethisch inakzeptabel“, sagte der oberste Repräsentant der evangelischen Stadtkirche. Den Umgang mit Flüchtlingen sieht er als einen „langen Weg des Lernens, der nicht enden wird.“ Die aus Mülheim kommende Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Mülheims Sozialdezernent Ernst nannten Zahlen, die nachdenklich machen. 2014 kamen 40.000 Flüchtlinge nach Nordrhein-Westfalen. In diesem Jahr werden es voraussichtlich 53.000 sein. „Und das wird noch nicht das Ende der Fahnenstange sein“, betonte Kraft. Sie sieht die Unterbringung, Versorgung und Integration der Flüchtlinge, die aufgrund der Kriegslage in ihrer Heimat lange und vielleicht für immer bei uns bleiben werden „nicht nur als staatliche, sondern auch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Ihrer eignen Heimatstadt bescheinigte sie, „dass das schon sehr vorbildlich ist, wie man das hier hinbekommt.“ Katholikenrat Rolf Hohage unterstützte Krafts Forderung nach einer stärkeren Beteiligung des Bundes an den Kosten für die Unterbringung und Gesundheitsvorsorge der Flüchtlinge. „Der Bund darf die Kommunen da nicht hängen lassen“, unterstrich er und machte die Relationen deutlich: „Während wir in Deutschland rund 500.000 Flüchtlinge aufgenommen haben, sind es in Ländern, wie Jordanien oder dem Libanon eine Million.“
Allerdings räumte Kraft auf eine kritische Nachfrage aus dem Publikum auch ein, dass Deutschland und Schweden innerhalb der Europäischen Union derzeit unverhältnismäßige viele Flüchtlinge aufnehmen, die zum Beispiel an den Küsten der Niederlande, Belgiens oder Italiens landen und, laut EU-Recht dort aufgenommen werden müssten. „Das funktioniert aber nicht, weil diese Länder die Flüchtlinge weiterziehen lassen und wir als wirtschaftsstarkes Land mit einer ganz eigenen Geschichte auch eine ganz eigene Verantwortung haben, wenn es darum geht, Flüchtlinge aufzunehmen, die für ihre Familien und sich eine Lebensperspektive suchen,“ beschrieb Kraft den problematischen Ist-Zustand der europäischen Flüchtlingspolitik.
Kraft, Hitzbleck und Janßen waren sich einig, dass das Ruhrgebiet eine ausgeprägte Integrations- und Zuwanderungserfahrung hat, die anders, als in Sachsen, wo erheblich weniger Zuwanderer leben, keine Pegida-Proteste aufkommen lässt. „Von Ehrenamtlichen, die sich für die Flüchtlinge engagieren höre ich immer wieder: Wir geben nicht nur, sondern wir nehmen auch, weil die Begegnung mit Fremden eine Bereicherung für uns ist“, berichtete Stadtdechant Janßen. Und Kraft betonte: „Angesichts unseres eigenen Nachwuchsmangels brauchen wir junge, gut ausgebildete Zuwanderer.“ Allerdings gab Superintendent Hitzbleck auch zu: „Aufgrund ihrer eigenen Vertreibungs- und Fluchtgeschichte wissen zwar viele Menschen bei uns, was es bedeutet, von heute auf morgen aus gesicherten Verhältnissen gerissen zu werden und vor dem Nichts zu stehen. Dennoch haben wir auch mit unserer historischen Erfahrung bei der Integration von zugewanderten Arbeitskräften und Vertriebenen, wohl noch nie vor einer solch großen Aufgabe gestanden, wie wir das heute tun.“
Sozialdezernent Ernst untermauerte Hitzblecks Andeutung mit Fakten. Die Stadt Mülheim muss derzeit 868 Flüchtlinge beherbergen und versorgen. Ende des Jahres rechnet man mit 1200 Flüchtlingen. Das kostet die Stadt im Jahr elf Millionen Euro, von denen das Land 2,7 Millionen Euro trägt. Bisher hat die Stadt alle Flüchtlinge in insgesamt 170 Wohnungen untergebracht. Von denen stellt sie selbst 30 zur Verfügung. Weitere 110 wurden bei der lokalen Wohnungsgesellschaft SWB angemietet. Der Rest wird bei anderen Eigentümern angemietet. Nachdem die Pfarrgemeinde St. Mariä Himmelfahrt im vergangenen Jahr ihr Hildegardishaus, das jetzt wieder zum Altenheim werden soll, als gemeinschaftliche Übergangsunterkunft für Flüchtlinge bereit stellte, soll jetzt eine leer stehende Schule, die für ein privates Wohnbauprojekt vorgesehen ist, bis zum Jahresende als Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge genutzt werden. „Das streben wir nicht an, aber wir haben derzeit keine anderen Unterbringungsmöglichkeiten und für das nächste Jahre bereiten wir auch schon Standorte für Wohncontainer vor, weil wir angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen daran wohl nicht vorbeikommen werden“, sagt Ernst. Werner Hellmich vom Mülheimer Flüchtlingsrat kann sich in diesem Zusammenhang auch vorstellen, Flüchtlinge im Rahmen eines Wohnbauprojektes sinnvoll zu beschäftigen. Darüber hinaus fordert er „eine richtige Entwicklungshilfe, die Lebensverhältnisse schafft, die eine Flucht erst gar nicht nötig macht.“ Und Christel Schuck von der in Venezuela aktiven Hilfsinitiative Las Torres macht deutlich, „dass auch Deutschland mit seinen Waffenexporten Kriege erst möglich macht, die Menschen aus ihrer Heimat fliehen lassen.“ Thomas Emons
Weitere Informationen zum Integrationslotsen-Projekt der Mülheimer Caritas findet man auf ihrer Internetseite: www.caritas-muelheim.de Darüber hinaus kann man Wohnungsangebote für Flüchtlinge auch unter der Rufnummer 0208/455-5401 an die Stadt Mülheim oder per E-Mail an: ulrich.ernst@muelheim-ruhr.de an ihren Sozialdezernenten richten.
Dieser Text erschien am 25. April 2015 im Neuen Ruhrwort
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