Doch wie war das am 27. Januar 1945, als sowjetische Soldaten die Überlebenden des Massenvernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreiten? Wann erfuhren Mülheimer vom millionenfachen Mord des Holocaust und wie regierten sie auf die ersten Informationen und Bilder von Leichenbergen und Gaskammern oder auf den Anblick der ausgemergelten Menschen, die die Hölle der Konzentrationslager überlebt hatten?
Als sowjetische Truppen das Konzentrationslager Auschwitz befreiten, flüchtete der damals 13-jährige Heinz Wilhelm Auberg zusammen mit seinen Klassenkameraden von der Mittelschule an der Oberstraße aus der Kinderlandverschickung in Böhmen und Mähren vor der heranrückenden Roten Armee. Erst im Juli 1945 sollte er seine Heimatstadt wiedersehen. Das Wort Auschwitz und was sich damit verband, war ihm unbekannt. „Wir waren damals noch sehr national eingestellt und empfanden das Kriegsende als Niederlage“, erinnert sich Auberg. Auch in der Schule war der Holocaust kein Thema. Und als der Styrumer Pastor Paul Biermann dem 14-Jährigen und seinen Mitkonfirmanden zum ersten Mal von Konzentrationslagern und den Morden der Waffen-SS berichtete, wollte er das nicht wahrhaben und antwortete trotzig: „Die Waffen-SS hat an allen Fronten für Deutschland gekämpft, aber nicht gemordet.“ Doch als er 1947 im Ufa-Palast an der Schloßstraße zum ersten Mal Bilder aus einem Konzentrationslager sah, fragte er sich schon: „Wie konnte man so etwas machen?“ Noch nachdenklicher wurde er, als er 1948 von seiner Großmutter erfuhr, dass sein jüdischer Klassenkamerad Hans Rosenblum 1943 in Auschwitz ermordet worden sei. Und 1952 berichtete ihm sein bei der Reichsbahn eingesetzter Onkel erstmals von Deportationszügen, die nach Osten rollten. „Das kam eins zu anderen“, erinnert sich der Diplom-Ingenieur an seinen langen Umdenkungsprozess, der aus seiner Sicht erst durch die Lektüre der Bücher des Historikers Golo Mann (1963) abgeschlossen wurde und für ihn 1967 in sein Engagement für die SPD mündete.
„Darüber hat man nicht gesprochen“, erinnert sich der 1923 in Styrum geborene Fritz Heckmann, der das Kriegsende 1945 als Soldat der Luftwaffe erlebte und anschließend eine Ausbildung als Feinmechaniker absolvierte. Damals war er eigentlich zu sehr mit der harten Gegenwart des Überlebens und Wiederaufbauens beschäftigt, als sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch die holte ihn ein, als er 1946 durch Radio und Zeitung von den Massenmorden in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern las, sah und hörte. „Das war der größte Fehler, den die Deutschen je gemacht haben“, war damals sein spontaner Gedanke, ein Gedanke, der ihn bis heute begleitet und wieder hochkam, als er vor zehn oder 15 Jahren von Heinz Wilhelm Auberg im Geschichtsgesprächskreis Styrum vom Schicksal seines jüdischen Mitschülers Hans Rosenblum erfuhr. „Ich war vor allem eines. Sauer! Und ich habe mich gefragt, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten“, erinnert sich der 1917 in Styrum geborene August Weiland an seine Reaktion auf die Bilder und Informationen aus Auschwitz und anderen Vernichtungslagern, die ihn erst nach Kriegsende via Zeitung und Rundfunk erreichten. Damals erinnerte er sich auch an Gerüchte, die er als Soldat in Russland gehört hatte, aber nicht überprüfen konnte, „weil man damals ja die Schnauze halten musste und nichts sehen, sagen und hören durfte.“
Das Wort „Massenmord“ las der Speldorfer Karlheinz Schauenburg zum ersten Mal auf einem alliierten Flugblatt, das er im Januar 1943 auf seinem Schulweg fand. Damals war er 14 Jahre alt. Dort war von mehr als einer Million europäischer Juden die Rede, die seit Kriegsbeginn 1939 im deutschen Namen ermordet worden seien und von der Blutschuld, in die Hitler und seine Helfer das ganze deutsche Volk verstrickt hätten. Auf dem Flugblatt wurde SS-Brigardegeneral Werner Best mit den Worten zitiert: „Vernichtung fremden Volkstums widerspricht den Lebensgesetzen nicht, wenn sie vollständig geschieht.“ Nach dem Krieg erfuhr Schauenburg, dass dieser Best, der unter anderem als Reichsstatthalter in Dänemark in die Judenverfolgung verstrickt war, inzwischen als Justitiar für Stinnes arbeitete.
Noch nachdenklicher als die Zahlen und Fakten, die er damals auf dem Flugblatt las und nicht wirklich begreifen konnte, erschütterten ihn Fotos eines anderen alliierten Flugblattes, das von deutschen Truppen erschossene und erhängte Zivilisten in Polen und Jugoslawien zeigte.
Die Auswirkungen der Judenverfolgung hatte er bereits im November 1938 mit eigenen Augen gesehen, als er mit seiner weinenden Großmutter an der Ecke Wallstraße/Viktoriaplatz vor der brennenden Synagoge stand und wenig später die eingeschlagenen Fenster jüdischer Geschäfte und Wohnungen sah.
„Ich war erschüttert, aber ich konnte mich ja mit niemanden austauschen“, sagt Schauenburg im Rückblick auf seine erste Nachricht vom Massenmord, für den Auschwitz zum Synonym werden sollte.
Die Erlebnisse in der Kinderlandverschickung und als Luftwaffenhelfer verdrängten das Erfahrene und ließen es erst wieder hochkommen, als er nach Kriegsende in amerikanischen und britischen Militärzeitungen von den Greueltaten in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern erfuhr und um 1950 von einer Verwandten von den Leichen im KZ Buchenwald hörte, die sich Anwohner auf Befehl der Alliierten anschauen mussten. Nachhaltigen Eindruck machte auf den jungen Architekturstudenten dann auch noch mal die Lektüre in Bert Brechts illustrierter Kriegsfibel, die ihm das Entsetzen und die Abscheu über die geschehene Gewalttaten im Namen der Deutschen in die Seele brannte.
Als Sohn kommunistischer Eltern wusste der 1929 geborene Helmut Hermann schon als Junge, dass Gegner des NS-Regimes „abgeholt wurden.“ Doch was mit ihnen und mit ebenfalls abgeholten jüdischen Nachbarn in Auschwitz und anderen Lagern geschehen war, erfuhr und begriff er erst bei einer Filmvorführung im Jahr 1948. Damals machte Hermann, der sich sich seit 1975 in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes engagiert, eine Lehre als Zimmermann. „Ich war einfach nur geschockt. Ich bin still nach Hause gegangen und die Bilder haben mich bis ins Bett verfolgt“, erinnert sich Hermann an seine erste Begegnung mit dem Holocaust. Ähnlich nachhaltig wirkte auf ihn in den 80er Jahren die Begegnung mit einem ehemaligen KZ-Häftling, der von seinen Erlebnissen in Buchenwald berichtete. Noch heute sagt er: „Das kann man sich eigentlich nicht vorstellen, dass Menschen so mit Menschen umgehen.“
68 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau wurde am 27. Januar 2013 auf dem Jüdischen Friedhof an der Gracht der sechs Millionen Holocaust-Opfer gedacht, von denen etwa 270 aus Mülheim kamen.
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