Da ist inzwischen gerade bei vielen jungen Menschen eine gewisse Gleichgültigkeit eingetreten, was vielleicht auch mit einer zeitweisen Überfütterung zu tun hat, sagt der 82-jährige Helmut Hermann mit Blick auf die „Vergangenheitsbewältigung“ des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte.
Hermann kann diese nicht nur bei Jugendlichen zu findende Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte der NS-Diktatur nicht nachvollziehen. Denn sie ist für ihn kein Kapitel eines Geschichtsbuches, sondern Teil seiner Lebensgeschichte. Kurz nach der Machtübernahme im Januar 1933 ist mein Vater in unserer Wohnung von der SS zusammengeschlagen worden. Ich habe das noch genau vor Augen und erinnere mich an die große Angst, die ich damals hatte, berichtet Hermann aus seiner Familiengeschichte.
Weil sein Vater Josef Kommunist war und sich in Sport- und Musikvereinen der Partei engagierte, wurde er nicht nur zusammengeschlagen, sondern auch verhaftet. Die Verhöre gingen damals üblicherweise nicht ohne Misshandlungen vonstatten, weiß Hermann. Die Folgen für den Vater und seine Familie waren fatal: Mein Vater durfte nicht mehr in seinem alten Beruf als Scherenschleifer arbeiten, sondern musste in einem Steinbruch schuften, erinnert sich Hermann.
Auch Führer der Hitler-Jugend bedrohten den Vater, weil er Helmut und seinen Bruder Günter nicht zum nationalsozialistischen Jungvolk schicken wollte. Damit der Vater Ruhe bekam, gingen seine Söhne irgendwann doch hin. Wir hatten das Gefühl, dass die uns nicht kriegen können. Doch dann wurden wir von Fähnleinführern zusammengeschlagen, weil wir nicht gehorchen und in Reih und Glied marschieren wollten, blickt Hermann in das „1000-jährige Reich“ zurück, das am Ende zwölf grausame Jahre dauern sollte.
Als Hermann nach der Volksschule in der Landwirtschaft eingesetzt wurde, was ihn vor der Wehrmacht bewahrte, arbeitete er auch mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Polen, Serbien und der Sowjetunion zusammen. Auch wenn bei der Arbeit auf dem Feld nicht über Politik gesprochen wurde, erinnerten regelmäßige Jagdbomberangriffe an den Krieg. Damals konnte man schon ins Konzentrationslager kommen, wennman einem russischen Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangenen ein Butterbrot gab, berichtet Hermann über die totale und angstgesteuerte Kontrolle des nationalsozialistischen Machtapparates.
„Warum habt ihr euch nicht gewehrt“ - das hat Hermann bei Zeitzeugengesprächen oder historischen Stadtführungen von Schülern zu hören bekommen. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass die Kontrolle durch das NS-System so total war, dass die Voraussetzungen für Widerstand zum Teil gar nicht gegeben waren, weil man schon für eine Bemerkung, wie: „Diese Fische sind so fett, wie Hermann Göring“ verhaftet werden konnte, erzählt der Zeitgenosse. Doch es gab Lücken und Lichtblicke der Menschlichkeit. Bei der Arbeit auf dem Feld lernte Hermann zum Beispiel einen russischen Studenten kennen, dem er mal nicht ganz legal organisierte Süßigkeiten und Kuchen zustecken konnte. Dieser Mensch hat mich sehr beeindruckt, weil er mit Hilfe eines Deutsch-Russisch-Lexikons in nur wenigen Wochen fast perfekt deutsch sprechen lernte, beschreibt Hermann seine jugendliche Bewunderung für einen Kriegsgefangenen, den die NS-Propaganda als „Untermenschen“ deklassierte.
Nach Krieg und Diktatur zog Hermann für sich die Konsequenz, als Gewerkschafter und Kommunist politisch aktiv zu werden, auch weil er die Wiederbewaffnung Westdeutschlands nicht akzeptieren wollte- Das Thema Nationalsozialismus war damals Tabu und wurde totgeschwiegen, weil ja 90 Prozent der Deutschen Mitläufer gewesen waren und sich nicht mehr erinnern wollten, schildert Hermann den Zeitgeist der ersten Nachkriegsjahrzehnte.
Doch Hermann, der sich ab 1974 in der Mülheimer Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und dem Bund der Antifaschisten engagierte, fand 1978 24 interessierte Mitstreiter gegen das Vergessen. Sie trafen sich in der Volkshochschule. Ihr Ziel war eine Dokumentation über Widerstand und Verfolgung im Mülheim der Jahre zwischen 1933 und 1945. „Passt auf, dass ihr keine juristischen Probleme bekommt.“ Und: „Darüber haben wir hier keine Unterlagen“ , haben wir damals im Stadtarchiv zu hören bekommen.
Doch Hermann und seine Kollegen blieben dran, weil sie und er schon damals wussten, wovon er auch heute überzeugt ist: Wenn sich die Geschichte nicht wiederholen soll und wir dafür sorgen wollen, dass unsere Jugend nie mehr das erleben muss, was wir erleben mussten, müssen wir das Thema Nationalsozialismus im Gespräch und im Gedächtnis halten.
Mit Genugtuung sieht Hermann, der auch heute auf Nachfrage Stadtrundfahrten auf den Spuren der Mülheimer NS-Zeit anbietet, dass die Dokumentation über Widerstand und Verfolgung, die 1987 als Buch herausgegeben werden konnte, bis heute als viel zitierte Quelle für die Erforschung der Mülheimer NS-Jahre dient und darüber hinaus zur Basis für eine Ausstellung und einen Film geworden ist.
So wie die Dokumentation, die mit Hilfe von rund 50 Zeitzeugen erstmals auch den Widerstand beleuchtete, den Arbeiter und Frauen im nationalsozialistischen Mülheim leisteten, soll auch die Überarbeitung der daraus resultierenden Ausstellung mit Spenden finanziert werden.
Allein schon die Existenz einer rechtsextremen Partei, wie der NPD, ist Hermann Motivation genug, seine für die Zukunft mahnende Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit auch 68 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus unbeirrt fortzusetzen. Denn der Zeitzeuge und Zeitgenosse Hermann ist davon überzeugt: In einem Land, von dem ein Faschismus ausgegangen ist, der sich besonders brutal auf die Menschen ausgewirkt hat, darf es keine faschistischen Organisationen und Ideologie mehr geben.
Wer an einer historischen Stadtführung oder Stadtrundfahrt mit Helmut Hermann interessiert ist, erreicht ihn unter 0208/473571
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