Sonntag, 20. Januar 2013

Schon ein Jahr vor dem Elysee-Vertrag schlossen Mülheim an der Ruhr (Deutschland) und Tours an der Loire (Frankreich) Freundschaft: Zwischenbilanz.einer Städtepartnerschaft

Freundschaft mit Frankreich? Darüber hätten die alten Mölmschen wohl den Kopf geschüttelt. Und das obwohl sie ihre Stadtrechte einem Franzosen zu verdanken hatten. Es war der Schwager Napoleons, der Mülheim 1808 zur Stadt erhob. Doch auch wenn Joachim Murat als Großherzog von Berg die Gemeinderechte stärkte und damals viele Deutsche mit Napoleon sympathisierten, wurden die Franzosen an der Ruhr nicht als Freunde, sondern als Besatzer gesehen.


Aus der Geschichte gelernt

Nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wurde zwei Jahre später auf dem Mülheimer Rathausmarkt ein Kriegerdenkmal aufgestellt, das den Sieg über die Nachbarn im Westen und damit auch seine Opfer als Fundament des neuen deutschen Kaiserreiches verherrlichte.

Zwei Weltkriege und die französische Ruhrgebietsbesetzung, von der Mülheim unmittelbar betroffen war, verschärften die deutsch-französische Entfremdung weiter, obwohl es in den 1920er Jahren auch Bemühungen um eine europäische Integration und eine deutsch-französische Aussöhnung gab, die sich mit den Namen Aristide Briand und Gustav Stresemann verbanden.

Erst nach der traumatischen Erfahrung von zwei Weltkriegen, setzte sich in Deutschland und Frankreich die Erkenntnis durch, die Mülheims Altbürgermeister Wilhelm Knabe bei einer europapolitischen Veranstaltung des Kolpingwerkes einmal so formuliert hat: „Es geht uns nur gut, wenn es unseren Nachbarn gut geht.“ Vor diesem Hintergrund wurde in den 1950er Jahren mit der Gründung der Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein neues Kapitel in den deutsch-französischen Beziehungen aufgeschlagen.

Erste Kontaktaufnahme

1962, in dem Jahr, in dem der französische Staatspräsident Charles de Gaulles in Deutschland einen triumphalen Empfang erlebte und sich das deutsch-französische Freundschaftsabkommen abzeichnete, das am 22. Januar 1963 im Pariser Elysee-Palast von Bundeskanzler Konrad Adenauer und de Gaulle unterzeichnet werden sollte, begründeten Tours an der Loire und Mülheim an der Ruhr ihre Städtepartnerschaft, die zu einer Städtefreundschaft und einer Bürgerbeziehung heranreifen sollte.

Die ersten Begegnungen zwischen Mülheim und Tours fanden im Mai 1962 allerdings nicht zwischen Bürgern, sondern zwischen den Stadtspitzen statt. Bereits am 29. Januar 1962 hatte der Hauptausschuss des Rates der Stadt die Aufnahme der Verhandlungen über eine deutsch-französische Städtepartnerschaft gebilligt. In Kontakt kamen Mülheim und Tours damals durch den Weltbund der Partnerstädte. Einem Briefwechsel zwischen den Oberbürgermeistern Heinrich Thöne (Mülheim) und Jean Royer (Tours) im April 1962, folgte dann im Mai ein erster Mülheimer Delegationsbesuch in Tours. Neben Thöne gehörten der Beigeordnete Heinrich Wittkugel, Jugendamtsleiter Reimer, den beiden Stadtverordneten Fritz Denks und Dr. Wilhelm Lotze sowie die späteren Oberstadtdirektoren Heinz Heiderhoff (damals Oberverwaltungsrat) und Heinz Hager (damals Stadtoberamtmann) zu den ersten Tours-Besuchern aus Mülheim.

Eine Partnerstadt mit Geschichte

Ihr rund 800 Kilometer von Mülheim entferntes Reiseziel, war und ist eine geschichtsträchtige Stadt, die heute rund 135.000 Einwohner zählt. Hier lebte und wirkte im 4. Jahrhundert der Heilige Bischof Martin von Tours, nach dem heute eine Mülheimer Grundschule benannt ist. Im 6. Jahrhundert schrieb sein Bischofsnachfolger Gregor von Tours die Geschichte der Franken. Dort besiegte Karl Martell 732 die muslimischen Mauren. Ebenfalls im 8. Jahrhundert wirkte hier der Gelehrte Alkuin, der als Abt das Kloster Saint Martin dort theologische und philosophische Vorlesungen hielt und darüber hinaus als Berater Karls des Großen gefragt war. Vom 13. Bis ins 16. Jahrhundert war Tours eine Nebenresidenz der französischen Könige. 1920 wurde hier die Kommunistische Partei Frankreichs gegründet. Und unter der Führung dem konservativen Bürgermeisters Jean Royer (1920-2011), der von 1959 bis 1995 an der Spitze der Stadt stand, wurde Tours Kongress- und Universitätsstadt. Royer, der als Parlamentsabgeordneter, Minister und Präsodentschaftskandidat auch jenseits der Stadtgrenzen Politik machte, sorgte für den Wiederaufbau der historischen Innenstadt und den Ausbau der urbanen Infrastruktur.

Erste Begegnungen

Während des einwöchigen Aufenthaltes, der vom 5. Bis zum 12. Mai 1962 dauerte, eröffnete Thöne in Tours eine Landwirtschaftsausstellung. Bei dieser Gelegenheit unterstrich der damalige Mülheimer Oberbürgermeister:

„So begrüßenswert der wirtschaftliche Zusammenschluss in der EWG ist, menschlich aber bleibt man sich fremd. Es kommt nicht allein auf unsere Freundschaft an. Je mehr Freundschaften aber geschlossen werden, um so größer ist die Zahl der Menschen, die sich über Grenzen hinweg sprachlich und menschlich besser kennen- und verstehen lernen.“

Und Thönes Tourainer Amtskollege Royer, der Mülheim einen Monat später besuchen und 1973 für seine Verdienste um die Städtepartnerschaft mit dem Mülheimer Ehrenring ausgezeichnet werden sollte, stellte beim gleichen Anlass fest:

„In Tours wird viel Deutsch in den Schulen unterrichtet. Es gibt viele Schüler, denen es gut täte, einmal nach Deutschland zu fahren.“

Und so wurde denn auch bei diesem ersten Gipfeltreffen der beiden Partnerstädte für den Sommer 1963 ein erster Jugendaustausch vereinbart. Ebenfalls im Jahr 1963 stellte sich das traditionsreiche Tours mit einer Ausstellung in der Stadthalle erstmals den Mülheimern vor. Und eine Mülheimer Delegation besuchte damals die renommierte Tourainer Wirtschaftsausstellung.

Von der Städtepartnerschaft zur Bürgerbeziehung

Vor allem Jugend- und Schülerbegegnungen sollten in den nachfolgenden Jahrzehnten die deutsch-französische Städtepartnerschaft mit Leben füllen. Derzeit pflegen zum Beispiel das Karl-Ziegler-Gymnasium und das Tourainer Gymnasium Saint Gregoire sowie die Luisenschule und das Tourainer College Lamartine einen regelmäßigen Austausch, bei dem in deutsch-französischen Schüler-Tandems nicht nur mit- und voneinander gelernt wird, sondern auch persönliche Freundschaften geknüpft werden.

Anfang der 70er Jahre kamen die Bürgerfahrten hinzu, die inzwischen in der Regie von Brigitte Mangen vom 1995 gegründeten Verein zur Förderung der Mülheimer Städtepartnerschaften durchgeführt werden. Für die erste Bürgerfahrt nach Tours, die damals vom Mülheimer Verkehrsverein organisiert wurde, meldeten sich 1972 in nur wenigen Stunden 158 Teilnehmer an. In vier Tagen Tours erlebten die Mülheimer Gäste dort zum Beispiel einen großen Blumenkorso, besuchten Schlösser der Loire und wurden im historischen Rathaus von Tours empfangen, wo auf einer Wand über einem Treppenaufgang die Gefallenen der drei Kriege verzeichnet sind, in denen sich Deutsche und Franzosen noch als Feinde bekämpft hatten.

Heute begrenzt der Förderverein Mülheimer Städtepartnerschaften seine Bürgerfahrten aus organisatorischen Gründen auf 40 bis 50 Teilnehmer. Sein Tourainer Pendant, die von Eliane Lebret geführte Deutsch-Französische Gesellschaft, besucht Mülheim jährlich mit 30 Tourainer Bürgern. Fast so lange wie die Bürgerfahrten, nämlich seit 1978, gibt es auch die Begegnungen zwischen Mülheimer und Tourainer Senioren, die auf der Mülheimer Seite mit jeweils 40 Teilnehmern im Auftrag der freien Wohlfahrtsverbände vom Deutschen Roten Kreuz organisiert werden. Das besondere an dieser Kontaktpflege zwischen Loire und Ruhr ist der Umstand, dass sich hier Menschen kennen und schätzen lernen, die noch in eine Zeit hinein geboren worden sind, in der nicht von deutsch-französischer Freundschaft, sondern von deutsch-französischer Erbfeindschaft die Rede war.

Dazu passt, was der 80-jährige Tourainer Yves Colin, der lange als Journalist für die Nouvelle Republique gearbeitet hat, anlässlich der französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2012 in der Mülheimer NRZ über seine Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen und sich in der Deutsch-Französischen Gesellschaft von Tours zu engagieren, gesagt hat:

„Die deutsche Sprache zu studieren war für mich eine doppelte Revanche gegen die Geschichte und gegen mein eigenes Leben. Da ich nicht die Möglichkeit hatte zu studieren, war es für mich sehr angenehm, die deutsche Sprache wieder zu entdecken. Dafür danke ich meinen Professoren. Ich war immer davon überzeugt, dass unsere Länder und ihre Bürger drei Bruderkriege durch freundliches Verständnis füreinander überwinden sollten.“

Der Geschäftsführer des Fördervereins Mülheimer Städtepartnerschaften, Hans Dieter Flohr, schätzt, dass rund ein Drittel der Fördermittel, die Stadt, Förderverein und Leonhard-Stinnes-Stiftung für städtepartnerschaftliche Bürgerbegegnungen bereitstellen in den menschlichen Brückenschlag zwischen Mülheim und Tours fließen und dort vor allem in Schüler- und Jugendbegegnungen, die entweder über Schulen oder Vereine organisiert werden. Seit seiner Gründung hat der Verein, der heute 300 Mitglieder zählt, für bürgerschaftliche Begegnungen im Rahmen der Städtepartnerschaften insgesamt rund 240.000 Euro zur Verfügung gestellt. Die Bandbreite des Spektrums reicht vom AEORO-Club über den Behinderten- und Rehabilitationssport bis zum Jungen Theater an der Ruhr.

Aber auch jenseits der offiziellen Begegnungen haben sich im Laufe von fünf Jahrzehnten zahlreiche Bürgerbeziehungen zwischen Tours und Mülheim entwickelt. Menschen und Gruppen aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Stadtgesellschaft haben sich hier wie dort kennen, verstehen und manchmal sogar lieben gelernt.

Karnevalisten und Künstler pflegten oder pflegen ebenso persönliche Kontakte wie Psychiater, Pfadfinder, Praktikanten, Studenten, Sportler, Senioren oder Kleingärtner, um nur einige von vielen Beispielen zu nennen. Oft waren oder sind es Feste oder Kultur,- und Sportveranstaltungen, die den äußeren Rahmen der partnerstädtischen Bürgerbegegnungen bilden.

„Das ist das Schönste, dass aus Kollegialität Freundschaft wurde, die inzwischen sogar in der dritten Generation Früchte trägt, weil auch die Kinder unserer Kinder am Austausch interessiert sind. Man selbst lernt über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen und Vorurteile abzubauen, in dem man sieht, dass man es durchaus mit ähnlichen Problemen zu tun hat und das sich das Diagnoseverfahren in Europa sehr stark vereinheitlicht hat,“ beschreibt die inzwischen pensionierte Amtsärztin Adelheid Geppert den Mehrwert des menschlichen und fachlichen Netzwerkes, das Psychiater aus Tours und Mülheim seit 1988 durch ihres Jahrestreffen mit Leben füllen.

Vergleichbare Erfahrungen in einem ganz anderen Bereich hat Margot Rudolph vom Mülheimer Carnevalsclub (MCC) gemacht, der seit vielen Jahren mit den Tourainer Majorettes verbunden ist, die traditionell im Mülheimer Rosenmontagszug mitgehen und ihrerseits die Freunde vom MCC zur alljährlichen Pfingstkirmes nach Tours einladen.

„Das sind sagenhaft nette Menschen, von deren Charme und Herzenswärme wir uns eine Scheibe abschneiden können“, schildert Rudolph die Erfahrungen mit ihren Tourainer Gastgebern, die in den letzten 35 Jahren zu Freunden geworden sind.

Den Mülheimer Karnevalisten ist es auch zu verdanken, dass Brigitte Mangen, wie es ein Tourainer einmal ausdrückte, „zu einem Bindestrich zwischen unseren beiden Städten geworden ist.“ Denn mit Tours kam die Französisch sprechende Mangen, die in den 60er Jahren für die damalige Europäische Gemeinschaft gearbeitet hatte, zum ersten Mal 1977 in Kontakt. Damals luden sie die Karnevalisten zu einem Abendessen mit den ihren Tourainer Gästen ein, um eine sprachkundige Übersetzerin am Tisch zu haben. Sie selbst hat einmal gesagt: „Ich fühle mich in Tours schon fast so zu Hause, wie in Mülheim.“ Mangen, die im Vorstand des Fördervereins Mülheimer Städtepartnerschaften für die Tours-Kontakte zuständig ist, schätzt, dass sie unsere französische Partnerstadt in den letzten 35 Jahren rund 150 Mal besucht hat. 2007 würdigte die Stadt Tours ihr Engagement für die Städtepartnerschaft mit der Verleihung ihres Verdienstordens.

Gegenwart und Zukunft

Heute wissen wir, dass der bereits nach dem ersten Thöne-Besuch in Tours in der Neuen Ruhr Zeitung im Mai 1962 formulierte Wunsch: „Tours und Mülheim sollen Brücken zueinander bauen“, in Erfüllung gegangen ist.

Schon 1963 hatte Tours damaliger Bürgermeister Jean Royer bei einem Mülheim-Besuch festgestellt: „Ich kehre mit dem guten Gefühl in meine Heimat zurück, in Mülheim von der Bevölkerung herzlich aufgenommen worden zu sein. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Menschen hier den Bemühungen um enge Beziehungen zu Tours positiv gegenüberstehen.“ Und als Royer 1973 mit dem Mülheimer Ehrenring ausgezeichnet wurde, nannte er diesen Ring „das Zeichen einer unwahrscheinlichen Freundschaft“, die ihn mit dem glücklichen Gefühl nach Hause fahren lasse, „das in einem anderen Land Herzen für uns schlagen.“

2001 schrieb denn auch die Tourainer Zeitung Nouvelle Republique mit Blick auf die damals fast 40 Jahre währende Städtepartnerschaft zwischen Tours und Mülheim: „Man könnte fast von einer Liebesgeschichte sprechen.“ Und Brigitte Mangen, die Tours so gut wie keine andere Mülheimerin kennt, verglich die Partnerstädte beim Jubiläumsfestakt im Tourainer Rathaus im Januar 2012 mit einem Ehepaar, das seine Goldene Hochzeit feiert und dessen Liebe im Laufe der Jahrzehnte zu absoluter Vertrautheit gereift sei.

Mit Blick auf die Zukunft der Städtepartnerschaft sagt der Tours-erfahrene Geschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes, Helmut Storm:

„Sie muss von den Bürgern akzeptiert und getragen werden. Sie braucht aber auch immer wieder öffentliche Impulse.“

Deshalb wünscht sich Eliane Lebret von der Deutsch-Französischen Gesellschaft in Tours auch für die Zukunft eine dauerhafte hauptamtliche Anlaufstelle im Mülheimer Rathaus, um die Aktivitäten der Städtepartnerschaft zuverlässig organisieren und koordinieren zu können. Denn mit Brigitte Mangen und Dieter Flohr vom Mülheimer Städtepartnerschaftsverein, ist sie sich darin einig, dass die Städtepartnerschaft zwischen Tours und Mülheim auch in Zukunft eine wichtige Plattform sein wird, die gerade jungen Menschen die Chance bietet, etwa durch ein Praktikum, wichtige Erfahrungen für ein Leben im enger zusammenwachsenden Europa zu sammeln

Dieser Beitrag ist auch im Jahrbuch 2013 der Stadt Mülheim nachzulesen

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