Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind im Ruhrgebiet aktuell 253.000 Menschen ohne Erwerbsarbeit. Mit 9,3 Prozent liegt die Arbeitslosenquote in unserer Region um vier Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Das ist die Gegenwart. Doch wie entwickelt sich der Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet? Und wie muss er sich entwickeln., wenn unsere Region Zukunft haben will. Diese Fragen diskutierte Ruhr Bischof Franz-Josef Overbeck jetzt mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern sowie Fachleuten aus Wissenschaft Wirtschaft und Gewerkschaften in der katholischen Akademie.
Overbeck sieht mit Blick auf das Ruhrgebiet viele Baustellen,
„wenn es darum geht Menschen und Familien in unserer Region zu halten“.
Schaffung und Erhalt eines bezahlbaren Wohnraums ist für ihn ebenso
entscheidend wie die nachhaltige Verbesserung der Mobilitätsinfrastruktur. „Gerade
junge Menschen möchten auch am späten Abend mal nur zehn Minuten und nicht
gleich 45 Minuten auf Bus oder Bahn warten müssen“, betonte Overbeck im
vergleichenden Blick auf andere deutsche Großstadtregionen. „Auch an der
Möglichkeit, auf eine gute soziale und medizinische Infrastruktur zurückzugreifen,
wenn es darum geht Familie von der Kindererziehung bis zur Pflege Angehöriger
mit dem Berufsleben verbinden zu können“, entscheidet sich für ihn die
Zukunftsfähigkeit des Ruhrgebiets. „Wir haben eine lange Erfahrung, wenn es um
Strukturwandel geht“, sagte Michelle Kywas vom Jungen Initiativkreis Ruhr. Sie
wies darauf hin, „dass wir vor 60 Jahren im Ruhrgebiet nur eine Universität
(die Ruhruniversität Bochum), aber 300.000 Bergleute hatte, während wir heute 22
Hochschulen mit 260000 studierenden haben, so dass heute sein Studium im
Ruhrgebiet absolviert, mit Blick auf den demografisch bedingten Fachkraeftemangel
machte sie der jungen Generation Mut. „Ihr könnt eigentlich nichts falsch
machen, wenn ihr eine gute Ausbildung macht. Dann werdet ihr auf jeden Fall
einen Arbeitsplatz finden, auch dann, wenn es vielleicht mal nicht klappt und
ihr euren Arbeitsplatz verliert. Auch dann werdet ihr schnell wieder einen neuen
Arbeitsplatz finden.“ Diesen Optimismus und die Aussicht auf den schönen neuen Arbeitsmarkt,
auf dem Arbeitnehmern die gebratenen Tauben, in den in den Mund fliegen, wollten
der Gewerkschafter Francesco
Grioli von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie
und Energie und der Schweizer Sozialforscher Franz Lehner, der „gerne in
Gelsenkirchen lebt und arbeitet“, so nicht teilen. Lehner sieht vor allem bei
der Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt eine ganz große Baustelle. „Man
hat das zu lange einfach so laufen lassen und jetzt haben wir in unseren
Städten Parallelgesellschaften mit perspektivlosen jungen Leute, die von sich
sagen: Ich werde Hartz IV.. Im Ruhrgebiet gibt es viele Schulen mit einem Zuwandereranteil
von bis zu 90 Prozent, in denen viele Schülerinnen und Schüler die deutsche
Sprache nicht beherrschen.“
Einen weiteren Arbeitsauftrag der Arbeitsmarktpolitik sieht
er darin, prekäre, weil schlecht bezahlte und befristete Arbeitsplätze durch
sozialversicherungspflichtige Festanstellungen zu ersetzen. Lehner: „Da müssen
wir unsere Politiker am Schlafittchen nehmen. Sonst dürfen wir uns nicht
darüber wundern, dass die jungen Leute keine Kinder in die Welt setzen und keine
Familien gründen.“ Das sah Gewerkschafter Francesco Grioli genauso. „Wie wollen Sie denn mit einer befristeten
Arbeit eine Familie gründen?“, fragte er und führte weiter aus: „Ich kann die
junge Generation sehr gut verstehen, wenn sie sich nicht nur einen kreativen und sinnvollen, sondern auch einen
sicheren Arbeitsplatz wünscht, der ihnen Planungssicherheit fürs Leben verschafft,
weil man vom ihm auch leben kann. Darüber hinaus sieht der Vorstand der IGBCE
die Notwendigkeit, „dass wir nicht nur über die Zuwanderung ausländischer
Fachkräfte nachdenken, sondern auch die stille Reserve aktivieren, die bis
heute erwerbslos vor den Werkstoren stehen. Denn in einer Sozialen
Marktwirtschaft muss es möglich sein, dass wir auch jenen Menschen, die aus
unterschiedlichen Gründen lange dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden
haben, durch Qualifizierung eine zweite Chance zu geben, damit sie auf dem
ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen und eine Arbeit finden, von der sie und ihre
Familien auch leben können.“ Der Strukturwandel wird im Ruhrgebiet nach Griolis
Ansicht „nur dann kein Strukturabbruch, wenn wir im Rahmen einer konzertierten
Aktion die politisch notwendigen Entscheidungen treffen, um den
wirtschaftlichen Strukturwandel auch sozial zu flankieren.“
Mit Blick auf die Homeoffice- und Homeschooling-Erfahrungen
der Corona-Zeit ließ Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck keinen Zweifel daran,
„dass die Digitalisierung bei uns noch nicht so funktioniert, und auch nicht so
sozialarbeiterisch unterstützt wird, wie sie es müsste, um in Beruf und Bildung
eine digitale Chancengleichheit beim Lernen und Arbeiten zu gewährleisten.“ Für
Michelle Kywas steht mit Blick auf den Renteneintritt der Babyboomer fest, „dass
wir die Digitalisierung so vorantreiben müssen, dass mit ihrer Hilfe Arbeit,
die bisher von drei Menschen erledigt worden ist, künftig von nur noch zwei
Menschen geleistet werden kann.“ Sozialforscher Lehner warnte aber auch vor dem
sozialen und ethischen Sprengstoff eines digitalisierten Arbeitsmarktes, indem
immer mehr arbeitslose Menschen, die auf staatliche Transferleistungen
angewiesen seien, immer weniger arbeitenden Menschen gegeüberstünden und von
diesen als „unnütz“ angesehen würden.
Für Julia Frohne von der Business-Metropole-Ruhr-GmbH ist die
Zukunft des Ruhrgebietes nicht schwarz, sondern grün. Ein hoher Grünflächenanteil,
kurze Wege und eine Kulturlandschaft
sorgen in ihren Augen für eine hohe Lebensqualität im Ruhrgebiet. Auch die
hochkarätigen Forschungsinstitute, wie zum Beispiel die Mülheimer
Max-Planck-Institute für Kohlenforschung und Energiekonversion, die mit Karl Ziegler
(1963) und Benjamin List (2021) gleich zwei Nobelpreisträger hervorgebracht
hätten, seien ein Pfund, mit dem das Ruhrgebiet als innovativer Wirtschafts-
und Wissenschaftsstandort wuchern könne. Positiv festgehalten wurde die
Tatsache, dass viele Menschen in der nachberuflichen Phase ihres Lebens ihr
Fach- und Erfahrungswissen in Betrieben oder mit Unterstützung kommunaler
Freiwilligenagenturen, etwa als Ausbildungspaten, an junge Menschen
weitergäben, die am Anfang ihres Berufslebens stünden. „Unsere Bewerbungszahlen
zeigen, dass Jugendliche, die am Anfang ihres Berufslebens stehen, das
Mentoringprogramm des Jungen Initiativkreis Ruhr gerne und gut annehmen“,
unterstrich Michelle Kywas. Auch das Erfahrungswissen der älteren Generation,
so war man sich im Plenum das Wolfsburg einig, müsse von Verwaltungen,
Bildungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen noch viel stärker und
gezielter als bisher zum Vorteil der Menschen am Standort Ruhrgebiet genutzt
werden. Deshalb riet Gewerkschafter Griolli den Unternehmen, in ihrem eigenen
Interesse, rentennahe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „zeitweise dafür
freizustellen, ihr Wissen an die jungen Kolleginnen und Kollegen
weiterzugeben.“
In der Diskussion wurden aber auch die Schwächen des
Ruhrgebietes deutlich benannt. Dazu wurden eine fehlende oder zu wenig
effektive politische Lobby im bundesweiten Wettbewerb der Standorte und ein im
Ruhrgebiet immer noch stark wirkendes kommunales Kirchturmdenken. Im Angesicht
dessen resümierte Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck: „Wir müssen unsere Kräfte
bündeln und aus den 53 Städten des Ruhrgebietes muss eine Großstadt werden. Der
erste Schritt dahin sollte eine stärkere Kooperation der Stadtverwaltungen
sein.“ Auch Julia Frohne bedauerte es sehr, „dass viele Menschen in Bochum oder
Essen gar nicht wissen, was es zum Beispiel Tolles in Gelsenkirchen oder
Dortmund gibt. Da brauchen wir einfach mehr Transparenz und mehr Mobilität.“
Zur Person:
Die 1983 in Gelsenkirchen geborene Wirtschaftswissenschaftlerin
Michelle Kwyas verantwortet als Prokuristin den Bereich Personal und
Unternehmensentwicklung bei der in Bottrop ansässigen Innovation City Management GmbH, wenn die sich
auf die fachliche Begleitung von Quartiersentwicklungsprojekten spezialisiert
hat. Kwyas gehört zu einem Team von insgesamt 50 Mitarbeitenden aus
verschiedenen Fachrichtungen. Nebenberuflich engagiert sich die Prokuristin und
Mutter einer Tochter als Mentorin im Jungen Initiativkreis Ruhrgebiet.
Der 1964 in Marl geborene Theologe Dr. Franz-Josef Overbecl
ist seit 2009 Bischof von Essen und seit 2011 Militärbischof der Bundeswehr. Bis
2021 war er Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche Fragen bei der
Deutschen Bischofskonferenz. Heute arbeitet er dort in den Kommissionen für
Fragen des Glaubens und der Weltkirche. Darüber hinaus ist er Adveniatbischof
und Vizepräsident der EU-Bischofskonferenz.
Der 1946 in Zürich geborene Franz Lehner hat als Professor an
der Ruhruniversität Bochum angewandte Sozialforschung gelehrt und als
geschäftsführender Direktor das Institut für Arbeit und Technik an der
Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen geleitet. Von 1990 bis 2006 stand er als
Präsident an der Spitze des Institutes für Arbeit und Technik, dass er bis heute
als Sozialforscher wissenschaftlich begleitet und berät.
Der
1972 im Taunus geborene Francesco Grioli, ist seit 1998 Gewerkschaftssekretär und
seit 2017 Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes der
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE). Der verheiratete
Vater und Sozialdemokrat sind gelernter Energieelektroniker und
Aufsichtsratsmitglied bei Bayer, Gerresheimer und Continental.
Die 1969 in Köln geborene Julia
Frohne ist Vorsitzende der Geschäftsführung der in Essen ansässigen Business Metropole
Ruhr GmbH. Als Professorin lehrt sie Kommunikationsmanagement an der
Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen.
Neues Ruhrwort & Die Wolfsburg
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen