Donnerstag, 26. Januar 2023

Was gibt es noch zu tun?

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind im Ruhrgebiet aktuell 253.000 Menschen ohne Erwerbsarbeit. Mit 9,3 Prozent liegt die Arbeitslosenquote in unserer Region um vier Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Das ist die Gegenwart. Doch wie entwickelt sich der Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet? Und wie muss er sich entwickeln., wenn unsere Region Zukunft haben will. Diese Fragen diskutierte Ruhr Bischof Franz-Josef Overbeck jetzt mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern sowie Fachleuten aus Wissenschaft Wirtschaft und Gewerkschaften in der katholischen Akademie.

Overbeck sieht mit Blick auf das Ruhrgebiet viele Baustellen, „wenn es darum geht Menschen und Familien in unserer Region zu halten“. Schaffung und Erhalt eines bezahlbaren Wohnraums ist für ihn ebenso entscheidend wie die nachhaltige Verbesserung der Mobilitätsinfrastruktur. „Gerade junge Menschen möchten auch am späten Abend mal nur zehn Minuten und nicht gleich 45 Minuten auf Bus oder Bahn warten müssen“, betonte Overbeck im vergleichenden Blick auf andere deutsche Großstadtregionen. „Auch an der Möglichkeit, auf eine gute soziale und medizinische Infrastruktur zurückzugreifen, wenn es darum geht Familie von der Kindererziehung bis zur Pflege Angehöriger mit dem Berufsleben verbinden zu können“, entscheidet sich für ihn die Zukunftsfähigkeit des Ruhrgebiets. „Wir haben eine lange Erfahrung, wenn es um Strukturwandel geht“, sagte Michelle Kywas vom Jungen Initiativkreis Ruhr. Sie wies darauf hin, „dass wir vor 60 Jahren im Ruhrgebiet nur eine Universität (die Ruhruniversität Bochum), aber 300.000 Bergleute hatte, während wir heute 22 Hochschulen mit 260000 studierenden haben, so dass heute sein Studium im Ruhrgebiet absolviert, mit Blick auf den demografisch bedingten Fachkraeftemangel machte sie der jungen Generation Mut. „Ihr könnt eigentlich nichts falsch machen, wenn ihr eine gute Ausbildung macht. Dann werdet ihr auf jeden Fall einen Arbeitsplatz finden, auch dann, wenn es vielleicht mal nicht klappt und ihr euren Arbeitsplatz verliert. Auch dann werdet ihr schnell wieder einen neuen Arbeitsplatz finden.“ Diesen Optimismus und die Aussicht auf den schönen neuen Arbeitsmarkt, auf dem Arbeitnehmern die gebratenen Tauben, in den in den Mund fliegen, wollten der Gewerkschafter Francesco Grioli von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie und der Schweizer Sozialforscher Franz Lehner, der „gerne in Gelsenkirchen lebt und arbeitet“, so nicht teilen. Lehner sieht vor allem bei der Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt eine ganz große Baustelle. „Man hat das zu lange einfach so laufen lassen und jetzt haben wir in unseren Städten Parallelgesellschaften mit perspektivlosen jungen Leute, die von sich sagen: Ich werde Hartz IV.. Im Ruhrgebiet gibt es viele Schulen mit einem Zuwandereranteil von bis zu 90 Prozent, in denen viele Schülerinnen und Schüler die deutsche Sprache nicht beherrschen.“

Einen weiteren Arbeitsauftrag der Arbeitsmarktpolitik sieht er darin, prekäre, weil schlecht bezahlte und befristete Arbeitsplätze durch sozialversicherungspflichtige Festanstellungen zu ersetzen. Lehner: „Da müssen wir unsere Politiker am Schlafittchen nehmen. Sonst dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass die jungen Leute keine Kinder in die Welt setzen und keine Familien gründen.“ Das sah Gewerkschafter Francesco Grioli genauso. „Wie wollen Sie denn mit einer befristeten Arbeit eine Familie gründen?“, fragte er und führte weiter aus: „Ich kann die junge Generation sehr gut verstehen, wenn sie sich nicht nur einen kreativen und sinnvollen, sondern auch einen sicheren Arbeitsplatz wünscht, der ihnen Planungssicherheit fürs Leben verschafft, weil man vom ihm auch leben kann. Darüber hinaus sieht der Vorstand der IGBCE die Notwendigkeit, „dass wir nicht nur über die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte nachdenken, sondern auch die stille Reserve aktivieren, die bis heute erwerbslos vor den Werkstoren stehen. Denn in einer Sozialen Marktwirtschaft muss es möglich sein, dass wir auch jenen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen lange dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung gestanden haben, durch Qualifizierung eine zweite Chance zu geben, damit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen und eine Arbeit finden, von der sie und ihre Familien auch leben können.“ Der Strukturwandel wird im Ruhrgebiet nach Griolis Ansicht „nur dann kein Strukturabbruch, wenn wir im Rahmen einer konzertierten Aktion die politisch notwendigen Entscheidungen treffen, um den wirtschaftlichen Strukturwandel auch sozial zu flankieren.“

Mit Blick auf die Homeoffice- und Homeschooling-Erfahrungen der Corona-Zeit ließ Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck keinen Zweifel daran, „dass die Digitalisierung bei uns noch nicht so funktioniert, und auch nicht so sozialarbeiterisch unterstützt wird, wie sie es müsste, um in Beruf und Bildung eine digitale Chancengleichheit beim Lernen und Arbeiten zu gewährleisten.“ Für Michelle Kywas steht mit Blick auf den Renteneintritt der Babyboomer fest, „dass wir die Digitalisierung so vorantreiben müssen, dass mit ihrer Hilfe Arbeit, die bisher von drei Menschen erledigt worden ist, künftig von nur noch zwei Menschen geleistet werden kann.“ Sozialforscher Lehner warnte aber auch vor dem sozialen und ethischen Sprengstoff eines digitalisierten Arbeitsmarktes, indem immer mehr arbeitslose Menschen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen seien, immer weniger arbeitenden Menschen gegeüberstünden und von diesen als „unnütz“ angesehen würden.

Für Julia Frohne von der Business-Metropole-Ruhr-GmbH ist die Zukunft des Ruhrgebietes nicht schwarz, sondern grün. Ein hoher Grünflächenanteil, kurze Wege und eine Kulturlandschaft sorgen in ihren Augen für eine hohe Lebensqualität im Ruhrgebiet. Auch die hochkarätigen Forschungsinstitute, wie zum Beispiel die Mülheimer Max-Planck-Institute für Kohlenforschung und Energiekonversion, die mit Karl Ziegler (1963) und Benjamin List (2021) gleich zwei Nobelpreisträger hervorgebracht hätten, seien ein Pfund, mit dem das Ruhrgebiet als innovativer Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort wuchern könne. Positiv festgehalten wurde die Tatsache, dass viele Menschen in der nachberuflichen Phase ihres Lebens ihr Fach- und Erfahrungswissen in Betrieben oder mit Unterstützung kommunaler Freiwilligenagenturen, etwa als Ausbildungspaten, an junge Menschen weitergäben, die am Anfang ihres Berufslebens stünden. „Unsere Bewerbungszahlen zeigen, dass Jugendliche, die am Anfang ihres Berufslebens stehen, das Mentoringprogramm des Jungen Initiativkreis Ruhr gerne und gut annehmen“, unterstrich Michelle Kywas. Auch das Erfahrungswissen der älteren Generation, so war man sich im Plenum das Wolfsburg einig, müsse von Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen noch viel stärker und gezielter als bisher zum Vorteil der Menschen am Standort Ruhrgebiet genutzt werden. Deshalb riet Gewerkschafter Griolli den Unternehmen, in ihrem eigenen Interesse, rentennahe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „zeitweise dafür freizustellen, ihr Wissen an die jungen Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben.“

In der Diskussion wurden aber auch die Schwächen des Ruhrgebietes deutlich benannt. Dazu wurden eine fehlende oder zu wenig effektive politische Lobby im bundesweiten Wettbewerb der Standorte und ein im Ruhrgebiet immer noch stark wirkendes kommunales Kirchturmdenken. Im Angesicht dessen resümierte Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck: „Wir müssen unsere Kräfte bündeln und aus den 53 Städten des Ruhrgebietes muss eine Großstadt werden. Der erste Schritt dahin sollte eine stärkere Kooperation der Stadtverwaltungen sein.“ Auch Julia Frohne bedauerte es sehr, „dass viele Menschen in Bochum oder Essen gar nicht wissen, was es zum Beispiel Tolles in Gelsenkirchen oder Dortmund gibt. Da brauchen wir einfach mehr Transparenz und mehr Mobilität.“ 

Zur Person:

Die 1983 in Gelsenkirchen geborene Wirtschaftswissenschaftlerin Michelle Kwyas verantwortet als Prokuristin den Bereich Personal und Unternehmensentwicklung bei der in Bottrop ansässigen Innovation City Management GmbH, wenn die sich auf die fachliche Begleitung von Quartiersentwicklungsprojekten spezialisiert hat. Kwyas gehört zu einem Team von insgesamt 50 Mitarbeitenden aus verschiedenen Fachrichtungen. Nebenberuflich engagiert sich die Prokuristin und Mutter einer Tochter als Mentorin im Jungen Initiativkreis Ruhrgebiet.

Der 1964 in Marl geborene Theologe Dr. Franz-Josef Overbecl ist seit 2009 Bischof von Essen und seit 2011 Militärbischof der Bundeswehr. Bis 2021 war er Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche Fragen bei der Deutschen Bischofskonferenz. Heute arbeitet er dort in den Kommissionen für Fragen des Glaubens und der Weltkirche. Darüber hinaus ist er Adveniatbischof und Vizepräsident der EU-Bischofskonferenz.

Der 1946 in Zürich geborene Franz Lehner hat als Professor an der Ruhruniversität Bochum angewandte Sozialforschung gelehrt und als geschäftsführender Direktor das Institut für Arbeit und Technik an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen geleitet. Von 1990 bis 2006 stand er als Präsident an der Spitze des Institutes für Arbeit und Technik, dass er bis heute als Sozialforscher wissenschaftlich begleitet und berät.

Der 1972 im Taunus geborene Francesco Grioli, ist seit 1998 Gewerkschaftssekretär und seit 2017 Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE). Der verheiratete Vater und Sozialdemokrat sind gelernter Energieelektroniker und Aufsichtsratsmitglied bei Bayer, Gerresheimer und Continental.

Die 1969 in Köln geborene Julia Frohne ist Vorsitzende der Geschäftsführung der in Essen ansässigen Business Metropole Ruhr GmbH. Als Professorin lehrt sie Kommunikationsmanagement an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen.


Neues Ruhrwort & Die Wolfsburg


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