Wer durch Styrum geht, der kann im Vorbeigehen auf die Spuren einer Zeit stoßen, die vor 150 Jahren mit der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser begann. Damals, in der Zeit des Kaiserreiches war Styrum von 1878 bis 1903 eine eigenständige, von Theodor Tschoepke angeführte, Landbürgermeisterei, zu der neben Styrum auch Dümpten und Alstaden gehörte. Die Einwohnerzahl der Landbürgermeisterei stieg während ihres Bestehens von 21.000 auf 31.000. Ab 1893 hatte die Bürgermeisterei auch ein Rathaus, das am Marktplatz auf dem Grundstück der heutigen Gebrüder-Grimm-Schule stand stand und am 23. Juni 1943 den Bomben des Zweiten Weltkrieges zum Opfer fallen sollte.
Mit
seinen Straßenamen entsprach Styrum dem patriotischen und nationalistischen
Zeitgeist der sogenannten Gründerzeit, in der August Thyssen 1871 in Styrum
sein erstes Stahlwerk gründete und damit eine massive Zuwanderung arbeitssuchender
Menschen auslöste. Die Thyssen-Brücke, die die ab 1909 die 1862 angelegte
Eisenbahnstrecke überbrückt, versteht sich in Styrum also schon mal von selbst.
Anders ist das aus heutiger Sicht zum Beispiel mit der Sedanstraße, die die
Hauskamp- mit der Moritzstraße verbindet. Als die Straße 1900 ihren Namen
erhielt, kannte jedes Kind nicht nur in Styrum den Namen der ostfranzösischen
Stadt, in dem sich am 2. September 1870 mit einer Schlacht der
deutsch-französische Krieg mit der Gefangennahme des französischen Kaisers
Napoleon III. zugunsten der deutschen Staaten entschied. Damit war der Weg frei
für die deutsche Reichsgründung. Und deshalb wurde der 2. September als
Sedanstag gefeiert. Neben dem Sedanstag, der die Kaiserproklamation vom 18.
Januar 1871 im Schloss von Versailles erst möglich machte, wurde im Kaiserreich
auch der Geburtstag des jeweils amtierenden Kaisers als Nationalfeiertag
begangen. Ebenfalls im Jahr 1900 widmeten die Styrumer ihre vormalige
Bahnhofstraße dem ersten deutschen Kaiser Wilhelm I. (1797-1888). Zeitgleich
machte man aus der Luisenstraße die Augustastraße, an der heute unter anderem
ein Schulzentrum und die Feldmannstiftung zu finden sind. Die Namengeberin war
die als liberal denkende Gemahlin des ersten deutschen Kaisers Augusta Marie Luise Katharina
von Sachsen-Weimar-Eisenach (1811-1890). Sie hatte ihren Gatten schon
früh dazu gedrängt, Preußen eine liberale Verfassung zu geben, war damit aber
am konservativen Hof der Hohenzollern nicht durchgedungen. Auch die Roonstraße
zwischen Moltkestraße und Oberhausener Straße erinnert seit 1900 in Styrum an einen
preußischen General und Minister, Albrecht Graf von Roon (1803-1879), der mit
seinen Heeresreformen eine wichtige Grundlage für die militärischen Erfolge in
den deutschen Einigungskriegen von 1864, 1866 und 1870/71 geschaffen hatte
Aus
heutiger Sicht fremd ist uns auch die Begeisterung für das Militär, die das
gesellschaftspolitische Klima zwischen 1871 und 1918 prägte. Der
preußisch-deutsche Militarismus, der später in den Ersten Weltkrieg und zum
Ende der deutschen Monarchie führte. Die Euphorie für des Kaisers Soldaten ist
nur zu verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass es ein Krieg und ein
militärischer Sieg über die französischen Nachbarn war, der zur ersten Vollendung der ersten
Deutschen Einheit und zu einem nationalen Selbstbewusstsein geführt hatte.
Indem Styrumer Straßen nach dem ersten deutschen Kaiser und nach preußischen
Generälen benannt wurden, demonstrierte der kaiserliche und konservative
Obrigkeitsstaat auch seine Macht gegenüber den zahlreichen katholischen und
sozialdemokratischen Arbeitern, die mit ihren Familien in Styrum lebten. Diese
Bevölkerungsgruppe, die politisch dem Zentrum und der SPD nahestanden, standen
dem Staat der preußisch-protestantischen Hohenzollern aus gutem Grund kritisch
gegenüber. Denn sie hatten während der 1870er und 1880er Jahre im Kulturkampf
und in Folge der Sozialistengesetze staatlich und rechtlich legitimierte
Repressalien erlitten.
Im
Kaiserreich, in dem Mülheim ab 1899 Garnisonsstadt war, wurden viele Gespräche
nicht mir der Frage: „Was machen Sie beruflich?“, sondern mit der Frage: „Wo
haben Sie gedient?“ eröffnet. Dieser militärische Grundton des ersten deutschen
Nationalstaates spiegelt sich bis heute auch in den Styrumer Straßennamen wider.
So wurde die alte Styrumer Rathausstraße 1914 nach dem preußischen General und
Minister Friedrich-Wilhelm von Zastrow (1752-1830) benannt. Auch die
Goebenstraße, die am Sültenfuß in die Oberhausener Straße einmündet, hat mit
General August von Goeben (1818-1880) einen militärischen Namenspatron, dessen
Heeres-Kariere in den deutschen Einigungskriegen gegen Dänemark (1864), gegen
Österreich (1866) ihren Höhepunkt erreichte. Das gilt auch für seinen
preußischen Generalskollegen uns Stabschef des Heeres, Leonhardt Graf von
Blumenthal (1816-1900), der 1914 niemanden Geringeres als den Dichter Johann
Wolfgang von Goethe als Namensgeber für die Straße verdrängte, die heute
südlich der A40 und nördlich der Schwerinstraße verläuft. Die kurz vor der
Willy-Brandt-Schule von der Oberhauener Straße abzweigende Alsenstraße und die
nahe der Siegfriedbrücke von der Hauskampstraße abzweigende Düppelstraße
erinnern an 1864 erkämpfte deutsche Siege im Krieg gegen Dänemark. Und wir
ahnen es schon: Die Schwerinstraße zwischen Heidestraße und Rosenkamp ist nicht
nach der mecklenburgischen Landeshauptstadt, sondern nach dem Grafen Carl
Christoph von Schwerin (1684-1757) benannt, der dem preußischen Soldaten-König
Friedrich II. als Generalfeldmarschall in beiden Schlesischen und im
Siebenjährigen Krieg diente. In diesen Kriegen des 18. Jahrhunderts standen sich
unter anderem die Hohenzollern und die Habsburger gegenüber. Dass die vormalige
Meidericher Straße, die zwischen 1900 und 1914 Hohenzollernstraße geheißen
hatte, ihren heutigen Namen 1937 erhielt, zeigt: Die Nationalsozialisten, die
damals unter der Führung Adolf Hitlers bereits auf einen Krieg zusteuerten, der
den 1919 zu Lasten Deutschlands
geschlossenen Friedensvertrag von Versailles revidieren sollte, bemächtigten
sich der preußisch-deutschen Generäle, um ihre eigene Kriegspolitik im
öffentlichen Bewusstsein als Fortsetzung einer Tradition militärischer Erfolge
zu rechtfertigen. Sowohl unter den Hohenzollern wie unter Hitler wurden
Preußens Generäle als Ikonen einen autoritären und antidemokratischen
Nationalismus instrumentalisiert.
In
dieser Tradition waren Generäle vor 1945 nicht nur in Styrum, dessen
Thyssenwerk auch ein Rüstungsbetrieb war, selbstverständliche Namensgeber für
Straßen und Plätze. Und so erinnern seit Kaisers Zeiten auch die Spichernstraße,
die Moltkestraße und die Steinmetzstraße im Styrumer Ortsteil, nördlich der
Oberhausener Straße an eine für die deutschen Truppen siegreiche Schlacht vom
6. August 1870 im lothringischen Spichern sowie die in den deutschen
Eingungskriegen erfolgreichen Generäle Karl-Friedrich von Steinmetz (1796-1877)
und Helmuth von Moltke (1800-1891). Es ist eine tragische Ironie der deutschen
Geschichte, dass der namensgleiche Großneffe des Generalfeldmarschalls Helmuth
von Moltke, Hellmuth James Graf von Moltke (1907-1945) zu den Mitgliedern des
Widerstandes gehörte, die ihren Kampf gegen Adolf Hitler nach dem am 20. Juli
gescheiterten Attentat mit dem Leben bezahlen mussten. Moltke und seine
Mitstreiter, die versucht hatten, mit einem Staatsstreich hatten, die
NS-Diktatur und mit ihr den Zweiten Weltkrieg zu beenden, wurden damit auch zu
Opfern des deutschen Militarismus und Nationalismus . Nach dem Zweiten
Weltkrieg, der mit seinen Luftangriffen erstmals auch die Zivilbevölkerung zum
massenhaften Opfer des Krieges gemacht hatte, kam nicht nur in Styrum niemand
mehr auf die Idee, eine Straße nach einem militärisch erfolgreichen General zu
benennen. Waren im Deutsch-Französischen Krieg etwa 30 Mülheimer als Soldaten
gefallen, so waren es in den beiden Weltkriegen insgesamt rund 7000. Hinzu
kamen noch einmal mehr als 1000 Zivilopfer des Luftkrieges. Schaut man in
Mülheim, das während der NS-Zeit auch eine Adolf-Hitler-Straße (heute
Friedrichstraße), einen Platz der SA (heute Kaiserplatz) und eine
Hermann-Göring-Brücke (heute Mendener Brücke) hatte, auf die politisch
motivierte Straßenbenennung, so ist die heutige Friedrich-Ebert-Straße, die
Styrum mit der Stadtmitte führt ein Beispiel für den demokratischen
Paradigmenwechsel, der nach 1945 durch die Alliierten erzwungen und erst allmählich
von immer mehr Deutschen nachvollzogen wurde. Denn die nach dem
Sozialdemokraten und ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich
Ebert (1871-1925) benannte Straße, hatte zwischen 1916 und 1946 den Namen des
kaiserlichen Generalfeldmatschalls Paul von Hindenburg (1847-1934) getragen,
jenem Hindenburg, der Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt
und damit den Nationalsozialisten den Weg zur Macht freigemacht hatte. Sowohl
Hitler als auch Hindenburg waren zwischen 1933 und 1945 Ehrenbürger Mülheims.
An
der Frage, ob man die politisch überholte, aber historisch symbolträchtigen
Straßennamen beibehalten oder ersetzen sollte, scheiden sich die Geister. Das
zeigte zuletzt auch die Kontroverse um die seit 1967 so genannte
Fritz-Thyssen-Straße, die Dümpten und Styrum miteinander verbindet. Der
Industrielle Fitz Thyssen (1873-1951) hatte Hitler erst gefördert und sich dann
angesichts seiner Terror- und Kriegspolitik von ihm abgewendet. Von ihm stammte
das legendäre Geständnis: „Ich bezahlte Hitler!“
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