Donnerstag, 19. Januar 2023

Geschichte im Vorbeigehen

 Wer durch Styrum geht, der kann im Vorbeigehen auf die Spuren einer Zeit stoßen, die vor 150 Jahren mit der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser begann. Damals, in der Zeit des Kaiserreiches war Styrum von 1878 bis 1903 eine eigenständige, von Theodor Tschoepke angeführte, Landbürgermeisterei, zu der neben Styrum auch Dümpten und Alstaden gehörte. Die Einwohnerzahl der Landbürgermeisterei stieg während ihres Bestehens von 21.000 auf 31.000. Ab 1893 hatte die Bürgermeisterei auch ein Rathaus, das am Marktplatz auf dem Grundstück der heutigen Gebrüder-Grimm-Schule stand stand und am 23. Juni 1943 den Bomben des Zweiten Weltkrieges zum Opfer fallen sollte.

Mit seinen Straßenamen entsprach Styrum dem patriotischen und nationalistischen Zeitgeist der sogenannten Gründerzeit, in der August Thyssen 1871 in Styrum sein erstes Stahlwerk gründete und damit eine massive Zuwanderung arbeitssuchender Menschen auslöste. Die Thyssen-Brücke, die die ab 1909 die 1862 angelegte Eisenbahnstrecke überbrückt, versteht sich in Styrum also schon mal von selbst. Anders ist das aus heutiger Sicht zum Beispiel mit der Sedanstraße, die die Hauskamp- mit der Moritzstraße verbindet. Als die Straße 1900 ihren Namen erhielt, kannte jedes Kind nicht nur in Styrum den Namen der ostfranzösischen Stadt, in dem sich am 2. September 1870 mit einer Schlacht der deutsch-französische Krieg mit der Gefangennahme des französischen Kaisers Napoleon III. zugunsten der deutschen Staaten entschied. Damit war der Weg frei für die deutsche Reichsgründung. Und deshalb wurde der 2. September als Sedanstag gefeiert. Neben dem Sedanstag, der die Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 im Schloss von Versailles erst möglich machte, wurde im Kaiserreich auch der Geburtstag des jeweils amtierenden Kaisers als Nationalfeiertag begangen. Ebenfalls im Jahr 1900 widmeten die Styrumer ihre vormalige Bahnhofstraße dem ersten deutschen Kaiser Wilhelm I. (1797-1888). Zeitgleich machte man aus der Luisenstraße die Augustastraße, an der heute unter anderem ein Schulzentrum und die Feldmannstiftung zu finden sind. Die Namengeberin war die als liberal denkende Gemahlin des ersten deutschen Kaisers Augusta Marie Luise Katharina von Sachsen-Weimar-Eisenach  (1811-1890). Sie hatte ihren Gatten schon früh dazu gedrängt, Preußen eine liberale Verfassung zu geben, war damit aber am konservativen Hof der Hohenzollern nicht durchgedungen. Auch die Roonstraße zwischen Moltkestraße und Oberhausener Straße  erinnert seit 1900 in Styrum an einen preußischen General und Minister, Albrecht Graf von Roon (1803-1879), der mit seinen Heeresreformen eine wichtige Grundlage für die militärischen Erfolge in den deutschen Einigungskriegen von 1864, 1866 und 1870/71 geschaffen hatte

Aus heutiger Sicht fremd ist uns auch die Begeisterung für das Militär, die das gesellschaftspolitische Klima zwischen 1871 und 1918 prägte. Der preußisch-deutsche Militarismus, der später in den Ersten Weltkrieg und zum Ende der deutschen Monarchie führte. Die Euphorie für des Kaisers Soldaten ist nur zu verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass es ein Krieg und ein militärischer Sieg über die französischen Nachbarn war, der zur ersten Vollendung der ersten Deutschen Einheit und zu einem nationalen Selbstbewusstsein geführt hatte. Indem Styrumer Straßen nach dem ersten deutschen Kaiser und nach preußischen Generälen benannt wurden, demonstrierte der kaiserliche und konservative Obrigkeitsstaat auch seine Macht gegenüber den zahlreichen katholischen und sozialdemokratischen Arbeitern, die mit ihren Familien in Styrum lebten. Diese Bevölkerungsgruppe, die politisch dem Zentrum und der SPD nahestanden, standen dem Staat der preußisch-protestantischen Hohenzollern aus gutem Grund kritisch gegenüber. Denn sie hatten während der 1870er und 1880er Jahre im Kulturkampf und in Folge der Sozialistengesetze staatlich und rechtlich legitimierte Repressalien erlitten.

Im Kaiserreich, in dem Mülheim ab 1899 Garnisonsstadt war, wurden viele Gespräche nicht mir der Frage: „Was machen Sie beruflich?“, sondern mit der Frage: „Wo haben Sie gedient?“ eröffnet. Dieser militärische Grundton des ersten deutschen Nationalstaates spiegelt sich bis heute auch in den Styrumer Straßennamen wider. So wurde die alte Styrumer Rathausstraße 1914 nach dem preußischen General und Minister Friedrich-Wilhelm von Zastrow (1752-1830) benannt. Auch die Goebenstraße, die am Sültenfuß in die Oberhausener Straße einmündet, hat mit General August von Goeben (1818-1880) einen militärischen Namenspatron, dessen Heeres-Kariere in den deutschen Einigungskriegen gegen Dänemark (1864), gegen Österreich (1866) ihren Höhepunkt erreichte. Das gilt auch für seinen preußischen Generalskollegen uns Stabschef des Heeres, Leonhardt Graf von Blumenthal (1816-1900), der 1914 niemanden Geringeres als den Dichter Johann Wolfgang von Goethe als Namensgeber für die Straße verdrängte, die heute südlich der A40 und nördlich der Schwerinstraße verläuft. Die kurz vor der Willy-Brandt-Schule von der Oberhauener Straße abzweigende Alsenstraße und die nahe der Siegfriedbrücke von der Hauskampstraße abzweigende Düppelstraße erinnern an 1864 erkämpfte deutsche Siege im Krieg gegen Dänemark. Und wir ahnen es schon: Die Schwerinstraße zwischen Heidestraße und Rosenkamp ist nicht nach der mecklenburgischen Landeshauptstadt, sondern nach dem Grafen Carl Christoph von Schwerin (1684-1757) benannt, der dem preußischen Soldaten-König Friedrich II. als Generalfeldmarschall in beiden Schlesischen und im Siebenjährigen Krieg diente. In diesen Kriegen des 18. Jahrhunderts standen sich unter anderem die Hohenzollern und die Habsburger gegenüber. Dass die vormalige Meidericher Straße, die zwischen 1900 und 1914 Hohenzollernstraße geheißen hatte, ihren heutigen Namen 1937 erhielt, zeigt: Die Nationalsozialisten, die damals unter der Führung Adolf Hitlers bereits auf einen Krieg zusteuerten, der den 1919 zu Lasten  Deutschlands geschlossenen Friedensvertrag von Versailles revidieren sollte, bemächtigten sich der preußisch-deutschen Generäle, um ihre eigene Kriegspolitik im öffentlichen Bewusstsein als Fortsetzung einer Tradition militärischer Erfolge zu rechtfertigen. Sowohl unter den Hohenzollern wie unter Hitler wurden Preußens Generäle als Ikonen einen autoritären und antidemokratischen Nationalismus instrumentalisiert.

In dieser Tradition waren Generäle vor 1945 nicht nur in Styrum, dessen Thyssenwerk auch ein Rüstungsbetrieb war, selbstverständliche Namensgeber für Straßen und Plätze. Und so erinnern seit Kaisers Zeiten auch die Spichernstraße, die Moltkestraße und die Steinmetzstraße im Styrumer Ortsteil, nördlich der Oberhausener Straße an eine für die deutschen Truppen siegreiche Schlacht vom 6. August 1870 im lothringischen Spichern sowie die in den deutschen Eingungskriegen erfolgreichen Generäle Karl-Friedrich von Steinmetz (1796-1877) und Helmuth von Moltke (1800-1891). Es ist eine tragische Ironie der deutschen Geschichte, dass der namensgleiche Großneffe des Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke, Hellmuth James Graf von Moltke (1907-1945) zu den Mitgliedern des Widerstandes gehörte, die ihren Kampf gegen Adolf Hitler nach dem am 20. Juli gescheiterten Attentat mit dem Leben bezahlen mussten. Moltke und seine Mitstreiter, die versucht hatten, mit einem Staatsstreich hatten, die NS-Diktatur und mit ihr den Zweiten Weltkrieg zu beenden, wurden damit auch zu Opfern des deutschen Militarismus und Nationalismus . Nach dem Zweiten Weltkrieg, der mit seinen Luftangriffen erstmals auch die Zivilbevölkerung zum massenhaften Opfer des Krieges gemacht hatte, kam nicht nur in Styrum niemand mehr auf die Idee, eine Straße nach einem militärisch erfolgreichen General zu benennen. Waren im Deutsch-Französischen Krieg etwa 30 Mülheimer als Soldaten gefallen, so waren es in den beiden Weltkriegen insgesamt rund 7000. Hinzu kamen noch einmal mehr als 1000 Zivilopfer des Luftkrieges. Schaut man in Mülheim, das während der NS-Zeit auch eine Adolf-Hitler-Straße (heute Friedrichstraße), einen Platz der SA (heute Kaiserplatz) und eine Hermann-Göring-Brücke (heute Mendener Brücke) hatte, auf die politisch motivierte Straßenbenennung, so ist die heutige Friedrich-Ebert-Straße, die Styrum mit der Stadtmitte führt ein Beispiel für den demokratischen Paradigmenwechsel, der nach 1945 durch die Alliierten erzwungen und erst allmählich von immer mehr Deutschen nachvollzogen wurde. Denn die nach dem Sozialdemokraten und ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert (1871-1925) benannte Straße, hatte zwischen 1916 und 1946 den Namen des kaiserlichen Generalfeldmatschalls Paul von Hindenburg (1847-1934) getragen, jenem Hindenburg, der Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt und damit den Nationalsozialisten den Weg zur Macht freigemacht hatte. Sowohl Hitler als auch Hindenburg waren zwischen 1933 und 1945 Ehrenbürger Mülheims.

An der Frage, ob man die politisch überholte, aber historisch symbolträchtigen Straßennamen beibehalten oder ersetzen sollte, scheiden sich die Geister. Das zeigte zuletzt auch die Kontroverse um die seit 1967 so genannte Fritz-Thyssen-Straße, die Dümpten und Styrum miteinander verbindet. Der Industrielle Fitz Thyssen (1873-1951) hatte Hitler erst gefördert und sich dann angesichts seiner Terror- und Kriegspolitik von ihm abgewendet. Von ihm stammte das legendäre Geständnis: „Ich bezahlte Hitler!“


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